Mutterschaft und Exzess

WERKSCHAU Mit der Terrorsaga „Carlos“ ist der französische Regisseur Olivier Assayas berühmt geworden. Jetzt zeigt das Arsenal-Kino eine Retrospektive seiner Filme, die allesamt ein starkes Gefühl für ihre Zeit entwickeln

Für Olivier Assayas heißt Traditionspflege, auf die Gegenwart zu reagieren

VON SIMON ROTHÖHLER

Ein vornehm gealtertes Landhaus am Rand von Paris ist der zentrale Schauplatz in Olivier Assayas’ vorletztem Spielfilm „L’heure d’été“ (2008). Es ist der Stammsitz einer großbürgerlichen Familie, deren Mitglieder karrierebedingt über den ganzen Globus verstreut sind. Die weitläufigen Räume sind ausstaffiert mit Kunst und museumswürdigem Mobiliar, die Art-Nouveau-Schreibtische etwa sind von Louis Majorelle. In fluiden, respektvollen Bewegungen gleitet die Kamera fast autonom durch diese Räume: zu Beginn des Films, als das im Haus wohnende Familienoberhaupt, die Mutter, noch lebt und von den Erinnerungen spricht, die in den Gegenständen gespeichert sind. Und nochmals am Schluss, wenn die Enkelgeneration die Interieurs mit französischem Hip-Hop flutet, das Haus vor dem Verkauf mit einer Geste der Reanimation verabschiedet wird.

„L’heure d’été“ ist wie die meisten jüngeren Filme von Olivier Assayas nie regulär im deutschen Kino gelaufen; allein schon deshalb ist es erfreulich, dass das Arsenal ihn nun im Rahmen einer Assayas-Retrospektive zweimal vorführen wird. Entstanden vor dem komplexen Großprojekt „Carlos“, einer Terrorsaga, die das geopolitische und ideologische Koordinatensystem einer ganzen Epoche ausmisst, trägt „L’heure d’été“ fast schon die gelassenen Züge eines Alterswerks. Auch wenn der 1955 in Paris geborene Filmemacher dafür noch zu jung ist und er sich nach wie vor auf sein exzellentes Gespür für Pop- und Gegenwartskultur verlassen kann. Der elegische Tonfall, die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Tradierbarkeit von Tradition – das in vielen feinnervigen Variationen durchgespielte Leitmotiv des Films – erwecken gleichwohl den Anschein einer diskreten Selbstvergewisserung, eines Zwischenresümees.

In gewisser Weise ist Assayas bereits heute ein Veteran des Post-Nouvelle-Vague-Kinos. Dass man als französischer Filmemacher seines Kalibers unweigerlich ein entsprechendes filmgeschichtliches Erbe antritt, sich zumindest dazu verhalten muss, hat Assayas stets konsequent mit einer starken Idee von Zeitgenossenschaft beantwortet. Denn genau das heißt für ihn Traditionspflege: Reagieren auf die eigene Gegenwart.

Zwei Schlüsselarbeiten in seinem Werk, das sich im Kern aus klugen Genre-Anverwandlungen speist, sind im guten Sinn Zeitgeistfilme: „Fin d’août, début septembre“ (1998) ist ein toll ausfransendes Milieu- und Generationenporträt der Pariser Szene und ihrer Geld-Liebe-Arbeit-Dispositionen Ende der Neunziger. „Irma Vep“ (1996) ein Film gewordenes Cinéphilie-Manifest, in dem Jean-Pierre Léaud einen ziemlich labilen Regisseur spielt, der an einem Remake des Stummfilmklassikers „Les Vampires“ scheitert, während seine Hauptdarstellerin eine sehr eigene Kommunikation mit der Filmgeschichte aufnimmt. Maggie Cheung verleiht dieser Figur eine kühle Explosivität – und wie dieser Star des Hongkong-Kinos im Latex-Ganzkörperkostüm zu dem Sonic-Youth-Stück „Tunic (Song for Karen)“ durch das Hotelzimmer irrlichtert, dürfte sich einer ganzen Kinogänger-Generation eingebrannt haben. Im Drogendrama „Clean“ (2004) kehrt sie an der Seite von Nick Nolte als lässig abgelebte Avantgarde-Rock-Heroine zurück, ein denkbar unreaktionärer Film über Mutterschaft und exzessives Genießen.

Die Retrospektive im Arsenal bietet aber nicht nur Gelegenheit, alte Favoriten wieder und neu zu sehen, sondern schließt auch Lücken, die selbst der DVD- und BitTorrent-Markt bisher nur ungenügend adressiert hat. Dazu gehören neben frühen Arbeiten wie „Laissé inachivé à Tokyo“ (1982) vor allem die Musikfilme (von Elektro-Pop bis Post-Punk), darunter der Konzertfilm „Noise“ (2006). Letzterer entstand, als Assayas bei dem Festival „Art Rock de Saint-Brieuc“ Carte blanche hatte.

Vor seinem ersten Spielfilm, dem Jugenddrama „Desordre“ (1986), studierte Assayas an der ENSBA, der wichtigsten Kunsthochschule des Landes, und drehte Kurzfilme, die dem damaligen Chefredakteur der Cahiers du cinéma Serge Daney aufgefallen waren. Daney holte den theorieaffinen Assayas 1979 als Redakteur zu dem Filmmagazin, das sich gerade von seiner erstarrten linksideologischen Ausrichtung zu erholen begann. Assayas, der sich bis heute als Guy-Debord-Anhänger und „libertärer Linker“ versteht, blieb bis 1985. Dann machte er zum Glück etwas sehr Französisches. Er wechselte von der Filmkritik zum Filmemachen.

■ „Am Puls der Zeiten – Die Filme von Olivier Assayas“: 1. bis 30. Oktober, Arsenal-Kino