Guten Morgen, Frau Schäfer!* Ihre Themen heute: Interview mit Boris Palmer, Porträt Ihres Trainers Eugen Stumpp, die Schulsituation in Weilheim - und die Erfüllung eines großen Wunsches. Viel Spaß!

Der Olympiasieger-Besieger von der Alb

taz-Leserin Birgit Schäfer hat lange Beine. Mit ihnen sprang sie vor fast zwanzig Jahren die eindrucksvolle Weite von 5,82 Metern. Ihr damaliger Leichtathletik-Trainer Eugen Stumpp hatte die Hoffnung, dass aus Birgit eine Spitzensportlerin werde, doch dann trennten sich ihre Wege. Was wohl aus ihrem Trainer von damals geworden ist, wollte Birgit Schäfer wissen. Die taz schaute nach

“Ich saß gerade auf dem Heimtrainer“, entschuldigt sich Eugen Stumpp, als er nach einer kurzen Wartezeit die Tür öffnet. Stumpp ist ein großer, kräftiger Mann, dem man seine 65 Jahre kaum ansieht. Ein rotes Gesicht, wache blaue Augen und ein ergrauter, imposanter Schnauzbart lassen ihn fast preußisch erscheinen. Auch ohne großes Vorwissen erkennt man, dass hier ein ehemaliger Athlet im Türrahmen steht: Deutscher Speerwurf-Meister und Olympiasieger-Besieger.

Lautlingen bei Balingen auf der Zollernalb: Hinter dem Haus von Stumpp beginnen die weiten Wälder, die Burg Hohenzollern reckt sich hoch in den Himmel. Seine sportliche Erfolgsgeschichte begann hier, mit einem lokalen Leichtathletik-Sportfest 1953, als der kleine Eugen “Kinderfestkönig“ wurde. „Ich war ein Riesentalent“, sagt Stumpp ganz unbescheiden. Später wurde er Jugendmeister im Kugelstoßen, dabei besaß sein Verein TSV Lautlingen nicht mal eine eigene Sportanlage. Stumpp öffnet eine Mappe, fischt ein kleines Foto heraus. Die 50 Jahre alte Schwarzweißfotografie zeigt ihn mit seiner späteren Frau auf einem Gelände, welches mehr an einen Bolzplatz als an eine Leichtathletik-Kampf-bahn erinnert.

Zu seiner Lieblingsdisziplin entwickelte sich der Speerwurf, und hier übertraf er immer wieder sich selbst und andere. Bis zu jenem Abend am 8. Juli 1964 in Köln, dem Geburtstag seiner heutigen Frau, als er sich bei einem internationalen Wettbewerb mit einem Speerwurf über 80,65 Meter in die Weltspitze schleuderte. Seine persönliche Bestmarke. Nie wieder hat er sie erreicht. „Diesen Tag werde ich nie vergessen“, sagt Eugen Stumpp nachdenklich, die Augen werden feucht. Seinen großen Traum, selbst an den Olympischen Sommerspielen in Tokio teilzunehmen, ein einziges Mal dabei sein zu dürfen, verfehlte er im gleichen Jahr nur knapp. Doch Eugen Stumpp resignierte nicht, das war nicht seine Art. Im folgenden Jahr schon schlug er in Barcelona den amtierenden Olympiasieger von Tokio, den Finnen Pauli Nevala.

Er steht auf, greift in eine gut sortierte Kommode und holt eine Anzahl Zeitungsartikel hervor, die seine sportliche Karriere nachzeichnen, Erfolge auflisten. Er ist auf Fotos zu sehen, meist schwarzweiß: ein gut aussehender junger Mann mit einer an der Seite rasierten, lockigen Frisur und ehrgeizigem Gesicht. Für den Olympiasieger-Besieger begann die „beste Zeit meines Lebens“, als er zur Bundeswehr nach Balingen kam. Nach der Grundausbildung wurde er für den Sport freigestellt. „Ich konnte gar nicht so oft trainieren, so viel Zeit hatte ich da“, erinnert sich Stumpp. „Aber diese Zeit kommt nicht wieder“, sagt er leise. 1977, als sein TSV zum 75-jährigen Vereinsjubiläum das Gaukinderturnfest ausrichtete, verabschiedete sich Stumpp aus dem aktiven Spitzensport und wurde Trainer der Leichtathleten, trieb sie ebenfalls zu Höchstleistungen an: Zweimal stellte seine Abteilung den süddeutschen Jugendmeister im Speerwerfen.

Und dann war da noch Birgit Schäfer. Mit einem 5,82-Meter-Weitsprung war sie als 15-Jährige eine der Besten beim Landesausscheid in Baden-Württemberg. „Damals war das spitze, sie war das größte Talent bei uns im Verein. Da hätte man mehr rauskitzeln können.“

Das Berufsleben verlief in schwäbisch geordneten Bahnen. Stumpp lernte Mechaniker in einem Textilbetrieb, nutzte aber die Gelegenheit zur Fahnenflucht, als das Land Baden-Württemberg in den 60er-Jahren nach Sportlehrern suchte. Er meldete sich und kam 1963 als Werk- und Sportlehrer an eine Grund-, Haupt- und Realschule im nahe gelegenen Balingen. Da der Lehrauftrag auch die Trainingsleitung bei einem Sportverein beinhaltete, konnte er sein Hobby mit dem Beruf verbinden. “Ein absoluter Glücksfall“, wie er sagt.

Doch im Laufe der Jahre fand er immer weniger Freude an seinem Job. „In den letzten Jahren war ich oft nur noch Polizist und Sozialarbeiter“, sagt Eugen Stumpp. „In Balingen hat‘s einfach zu viele Nationalitäten, da hat sich der Kosovokrieg in meinem Klassenzimmer abgespielt.“ Er wird still, möchte nicht weiter darüber reden, schüttelt nur mit dem Kopf. Was sportliche Rückschläge nicht vermochten, schafften nun moderne gesellschaftliche Entwicklungen. Im Jahr 2001 schied er vorzeitig als Frühpensionär aus dem Beruf aus. Eugen Stumpp gab auf.

Er senkt den Blick. Auf dem Tisch liegen Ergebnislisten, Dinge wie aus einer schöneren Welt: Weiten, Sekunden, Bestzeiten, Rekorde. Alles hat er sorgfältig aufbewahrt. Erhalten hätte er sich am liebsten auch andere Werte aus vergangenen Zeiten. „In der Schule hat man 30 Jahre Entwicklung verschlafen, und jetzt sind die Probleme da“, sagt er. Heute gebe es doch keine Disziplin mehr, das habe man alles über Jahrzehnte schleifen lassen. „Das merkt man doch in der heutigen Gesellschaft.“

Auch den Vereinssport sieht er auf dem absteigenden Ast. Talente gebe es zwar nach wie vor, aber „wer will sich heute noch so plagen wie früher?“ Die Leidensfähigkeit von Eugen Stumpp war jedenfalls noch aus einer anderen Zeit. Obwohl ihn sein Arzt damals warnte, dass er Hüftprobleme bekommen würde, kam er nicht vom Sport los, warf den Speer bis 1986 weiter, „und das mit voller Pulle“. Im letzten Jahr war es dann so weit, die rechte Hüfte musste ersetzt werden. Für Stumpp kein Beinbruch:“Heute spiele ich bei Tennisturnieren halt nur noch das Doppel.“

Und Birgit Schäfer, hätte sie möglicherweise auch eine große Sportkarriere beginnen können? „Das“, so Eugen Stumpp in typischer Trainermanier, „ist reine Spekulation.“

Die letzten Schüler von Weilheim

Wird Nora Felicitas ihre Einschulung 2013 noch in ihrem Heimatdorf erleben können? Die Grundschule in Weilheim ist klein, es spielen nur noch wenige Kinder im Alter von Birgit Schäfers Tochter auf den Straßen. In der kleinen Schule werden die Klassen bereits zusammengelegt, doch der Ortsvorsteher ist guten Mutes, dass bald wieder mehr Nachwuchs den Ort bevölkert

“Hier ist alles familiär, so überschaubar. Das ist der große Vorteil.“ Wenn der Lehrer Anselm Schulin von seinem Arbeitsplatz spricht, klingt das fast zärtlich. Die kleine Grundschule im Tübinger Ortsteil Weilheim ist aber auch putzig: Gerade einmal 48 Schülerinnen und Schüler lernten dort im vergangenen Schuljahr die Grundzüge des Schreibens und Rechnens. Auch eine Theater-AG gehört fest zum Betrieb der Zwergschule, zuletzt wurde ein Piratenstück geprobt, „Der Schatz des Vergessens“. Auch andere Projektgruppen sind das ganze Jahr über am Werkeln. Einige Jungs etwa bauten selbständig ein Fußballtor zusammen, auch ein Musikstück wurde eingeübt.

Die drei Lehrerinnen und Anselm Schulin haben nur wenige Probleme mit ihren Schülern. Zwar gebe es unter Kindern immer Streit, „aber Messerstechereien oder so etwas kennen wir nicht. Das mag auch daran liegen, dass das kulturelle Konfliktpotenzial in Weilheim relativ gering ist“, so Schulin. Von der Hilfe durch die Eltern ist der 39-Jährige ebenfalls begeistert. Sie finanzieren Projekte, engagieren sich bei der nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuung. „Man kennt sich und bekommt viel Unterstützung“, sagt der Hobbygitarrist. Seit sieben Jahren arbeitet er nun an der Grundschule, unterrichtet „außer Schwimmen alles“.

Doch die Weilheimer Idylle ist in Gefahr, die rückläufigen Geburtenzahlen bedrohen auch die kleine Schule. In Weilheim gibt es nicht viele Kinder. Und im Land der Häuslebauer wird auch nicht mehr so viel gebaut wie früher, „daher ziehen auch kaum junge Familien hierher“. In Weilheim wurden im abgelaufenen Schuljahr gerade einmal fünf Jungs eingeschult. „Natürlich ist das kaum rentabel“, gibt Schulin zu. „Aber man sollte die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern nicht rein ökonomisch betrachten“.

Roland Glaser, seit 1974 der Ortsvorsteher in Weilheim, hat schon viele Trends kommen und gehen sehen. Er ist optimistisch: „Wir haben in den letzten Jahren die Klassen eins und zwei und die Klassen drei und vier zusammengelegt. Auf diese Weise wird unsere Schule auch in den kommenden zehn Jahren bestehen.“ Das Schulgebäude wurde erst 2001 renoviert, in kräftigem und fröhlichem Rot-Gelb leuchtet es nun. Immerhin fünfzehnneue Erstklässler werden am 15. September um zehn Uhr ihre Schultüten in die Weilheimer Grundschule tragen. So bleibt die begründete Hoffnung, dass sie nicht einmal so betitelt werden wie Anselm Schulins Filmprojekt. Es hieß: „Die Letzten“.

Wie lange arbeiten Sie am Tag, Herr Palmer?

Birgit Schäfer wollte Tübingens „Grünen Star“, Oberbürgermeister Boris Palmer, interviewen. Kein Problem: Die taz macht‘s möglich! Über was sich die beiden dann unterhalten haben?

Birgit Schäfer hat eine kleine Tüte Pflaumen in der Hand. „Die wurden mir eben auf dem Markt noch aufgedrängt“, sagt sie. Vor dem Gespräch mit dem Tübinger Oberbürgermeister bleibt sie cool. Beruflich hat sie schließlich schon auf EU-Ministerebene zu tun gehabt.

Das Tübinger Rathaus, fast 600 Jahre alt, hat im Obergeschoss ein bedrohlich wirkendes Vorzimmer mit mittelalterlichen Bildnissen. Männer mit Schwertern und Speeren stehen sich gegenüber. Dann kommt Boris Palmer, der als Kandidat der Grünen im Januar zum Oberbürgermeister der Universitätsstadt gewählt wurde. Ein schlanker, agiler Typ, grünes Hemd, schwarze Weste. Lächelnd bittet er Schäfer in sein Amtszimmer. Er ist 36, damit dieselbe Generation wie sie, gilt als eloquenter Redner und schlagfertiger Gesprächspartner. Birgit Schäfer weiß nicht, wo sie ihre Pflaumen lassen soll, legt die Früchte auf eine dunkle, breite Holzbank.

Das Ambiente seines Amtszimmers passt: grün gestrichene Wände, selbst die Heizkörper sind grasfarben. Schäfer hat sich akribisch vorbereitet, acht Fragen auf einzelnen Karteikarten notiert. „Für jedes kommende Amtsjahr eine“, scherzt sie. Wird sie den grünen Aufsteiger über seinen querulanten Vater, den „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer, ausfragen, der zeitlebens in Fehden und Prozesse verstrickt war? Oder gar über seine Rolle im Konflikt mit einem Pharmaunternehmen, das in Tübingen einen Versuchstierstall einrichten wollte? Nichts dergleichen. Eine der ersten Fragen betrifft sein Arbeitspensum, die er so beantwortet, wie es jeder seiner Amtsgenossen zwischen Ostsee und Alpenrand tun würde. „Pro Tag etwa fünfzehn Stunden, hundert pro Woche.“ Und womit verbringt er sie?

Auch darauf kann nur eine Standardantwort folgen. „Die Hälfte draußen“, zum Beispiel bei der Eröffnung eines Kinderhauses, einem Besuch in der Klinik. Die nächste Frage lässt endlich einen kritischen Ansatz spüren: Ob ihm nicht der „professionelle Verwaltungshintergrund“ fehle? Schäfer hakt allerdings nicht nach, als Palmer seine Defizite in diesem Bereich mit der Aussage abkürzt, dass er seine Hauptaufgabe darin sieht, politische Ziele vor-zugeben. Welche das sind, bleibt im Dunkeln.

Aber jetzt will sie dem Bürgermeister offenbar richtig auf den Zahn fühlen. Im Stil einer Tagesschau-Sprecherin liest sie ihre nächste Frage von der Karteikarte ab. „Welchen Wert von eins bis zehn würden Sie der örtlichen Verwaltungstätigkeit geben?“ Palmer zaudert nicht lange und belohnt seine Tübinger Beamten mit einer lockeren Sieben, auch wegen deren loyaler Verhaltensweise.

Das Fenster ist geöffnet, draußen wird der Wochenmarkt abgebaut. Geräusche von Kleinlastern übertönen fast die nächste Frage. Wie weit und in welcher Weise wird sein Regierungsprogramm die Gleichstellung der Geschlechter berücksichtigen? Auch das ist schnell erklärt. Palmer nennt den Bereich der Sportstät- ten, wo man künftig mehr auf gleiche Mög-lichkeiten für Jungs und Mädels achten wolle. In diesem Stil geht es weiter. Keine Frage nach dem Streit um seine indirekte Wahlempfehlung zugunsten eines CDU-Kandidaten während der letzten Stuttgarter Bürgermeisterwahl oder der Kontroverse über seine Zote bezüglich des ehemaligen SPD-Politikers Werner Figgen.

Auch sein Popstar-Status unter Tübinger Jugendlichen bleibt unerwähnt. Dabei gibt der Bürgermeister gern Autogramme, ob auf Gips, Papier oder Haut. Allerdings achtet er peinlich darauf, wo er die Unterschriften platziert: „Ich möchte ja nicht, dass von den Eltern empörte Anrufe kommen.“ Dann müsste sich Boris Palmer wirklich rechtfertigen. Zuständiger Redakteur für Birgit Schäfer: Torben Dietrich

Birgit Schäfer (38) lebt seit 2004 mit ihrem Mann Thomas und der sieben Monate alten Tochter Nora Felicitas im schwäbischen Weilheim. Das Dorf im Neckartal liegt etwa drei Kilometer von Tübingen entfernt an der Bahnlinie Tübingen-Horb. Die 1.500 Einwohner leben 333 Meter über dem Meeresspiegel, die Geschichte ihres Ortes reicht tief in die Vergangenheit: Im Jahr 1090 wurde der Flecken das erste Mal erwähnt. Heutzutage liegt Weilheim dicht an der Moderne. Im Halbstundentakt fahren Busse der Linie 19 nach Tübingen. Birgit Schäfer arbeitet als selbständige Beraterin für die Umsetzung von EU-Agrarrichtlinien viel mit rumänischen Partnern zusammen, den Beruf findet sie abwechslungsreich und interessant. Vorher studierte sie Verwaltungswissenschaften in Berlin und Konstanz. Regionale Berühmtheit erlangte ihr heutiges Heimatdorf im 18 Jahrhundert, wo sich im „Weil- heimer Kneiple“ die Burschenschaftler der nahen Universitätsstadt eifrig die Köpfe blutig fechten konnten.

* Sollten Sie nicht Frau Schäfer sein, liegt ein Vertriebsfehler vor. Bitte melden Sie sich per Mail ( vertrieb@taz.de ), dann liefern wir Ihre persönliche Leserseite schnellstmöglich nach.