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Archiv-Artikel

„Bruder Nummer zwei“ unter Anklage

Er freue sich auf die Gelegenheit, dem UN-gestützten Völkermord-Tribunal zu sagen, wie es wirklich gewesen sei, hatte Nuon Chea, der ranghöchste noch lebende Vertreter der Roten Khmer, kürzlich in einem Interview von sich gegeben. Gelegenheit dazu hat er nun: Ein Großaufgebot von Polizei und Sicherheitskräften umzingelte am Mittwochmorgen sein Haus und nahm den 80-Jährigen fest. Per Hubschrauber wurde der Exchefideologe des Mordregimes in die Hauptstadt Phnom Penh befördert und wenige Stunden später offiziell angeklagt.

Unbehelligt hatte der für seine Skrupellosigkeit bekannte „Bruder Nummer zwei“ viele Jahre in Freiheit gelebt. In seinem Haus in Pailin nahe der thailändischen Grenze hatte er sich seinen Lebensabend mit Frau und Enkeln eingerichtet.

Geboren wurde Nuon Chea 1927 als Kind chinesisch-kambodschanischer Eltern. Er studierte Jura an der angesehenen Thammasat-Universität in Thailands Hauptstadt Bangkok. Nach seiner Rückkehr in die Heimat 1949 schloss er sich den maoistischen Roten Khmer an und stieg während deren Schreckensherrschaft von 1975 bis 1979 zur rechten Hand Pol Pots, des Führers der Roten Khmer, auf.

Nuon Chea galt als „Drahtzieher im Hintergrund“. Als einer der engsten Vertrauten des 1998 verstorbenen Pol Pot soll der einstige Anwalt maßgeblich für die Ausführung der Ideologie der Roten Khmer verantwortlich gewesen sein, durch die etwa 1,7 Millionen Kambodschaner in Arbeitslagern, Gefängnissen sowie auf den berüchtigten „Killing Fields“ ermordet worden waren.

Nach der Invasion der vietnamesischen Armee im Jahre 1979, die die Schreckensherrschaft der Roten Khmer beendete, flohen viele ehemalige Führer in den Dschungel und starteten einen Guerillakrieg. Im Dezember 1998 amnestierte Kambodschas Regierung die meisten der verbliebenen Roten Khmer. Die kambodschanische Nationalversammlung ratifizierte jedoch 2004 ein Abkommen mit der UNO, welches das Völkermord-Tribunal ermöglicht.

Nuon Chea war mehrfach durch Aussagen des bereits seit Jahren inhaftierten Exleiters des berüchtigten Tuol-Sleng-Foltergefängnisses, Kaing Khek lev, schwer belastet worden. Jahrzehntelang hatte er jedoch eine Mitverantwortung an den Morden geleugnet. Schließlich willigte er ein, vor dem Völkermord-Tribunal auszusagen – als Zeuge, nicht als Angeklagter. Der gebrechliche Mann, „dessen Beine bei der Festnahme zitterten“, wie eine Nachbarin sagte, fühlt nach eigenen Aussagen bis heute keine Reue: „Ich habe niemals schlaflose Nächste gehabt oder Tränen vergossen.“ NICOLA GLASS