Privatisierte Willkür

TABUZONE Mit-Denk-Lesen: „Die Schmerzmacherin“ von Marlene Streeruwitz

VON INES POHL

Wer hier dabei bleibt, ist mitgenommen. Wer nicht aussteigt, muss sich einlassen. Und wird belohnt mit diesem großen Abenteuer Lesen. Marlene Streeruwitz findet Worte und Sätze, die in ihrem Rhythmus gängige Strukturen und Hierarchien stören und neue Denkräume möglich machen.

„Die Schmerzmacherin“ hat Marlene Streeruwitz ihren neuen Roman genannt. Anders als Klappentext und Cover glauben lassen, ist es kein Thriller, den die österreichische Poetin, Feministin und politische Mitdenkerin nach einer drei Jahre langen Recherche jetzt präsentiert. Auch wenn es aus den klassischen Krimizutaten Angst, Bedrohung und Unsicherheit bestehen mag. Vielleicht wollte der Verlag darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch bei aller mitreißenden Dynamik letztlich harte Arbeit ist. Und den Lesenden abverlangt, sich einzulassen in einen intellektuellen Dialog mit den Wortfeldern. Das ist nicht zu konsumieren. Das ist Mit-Denk-Lesen.

Im Mittelpunkt steht die 24-jährige Amy, die uns aus ihrer Perspektive teilhaben lässt an diesem kurzen Jahr, das im Dezember beginnt und mit dem Kapitel September endet.

Zwar gibt es eine Leiche, aber erst ganz zum Schluss – und bis dahin ist fast alles tot, was es an Lebenswertem gegeben haben mag. In einer Welt, in der die staatliche Ordnung sich nicht zuletzt selbst aushebelt, weil sie die Verteidigung ihrer Werte an private Sicherheitsdienste ausgliedert, herrschen Angst und Misstrauen, Verrat und Korruption. Familienmitglieder bedrohen sich, die Sicherheitsfirma, in der Amy ausgebildet werden soll, foltert, tötet. Mit dem einzigen Ziel, sich als Organisation selbst am Leben zu erhalten.

Und mitten drin eben Amy, schön und klug, aber nicht gemacht für diesen Job. Sie säuft und versagt, sie passt nicht rein und kann bei allem Kämpfen nicht gewinnen, nur überleben. Sie wird in einer Nacht, besinnungslos von Alkohol und Drogen, vergewaltigt, ohne dass sie sich daran erinnert; erst durch eine Fehlgeburt wird sie gewahr, was passierte.

Eine Linie im Leben haben

Dabei benutzt Streeruwitz ihre Protagonistin, um an ihr exemplarisch die Zerrissenheit der Gesellschaft zu erzählen. Sie kommt aus einer kaputten Familie, ihre Ausbildung findet nicht mehr in staatlich organisierten Strukturen statt, die Generation Praktikum hangelt sich durch und ist der privatisierten Willkür anheimgegeben. Verantwortlich ist das Individuum, und das ist in dieser Verlorenheit so einfach zu verletzen: „Sie wollte eine einzige Linie haben. In ihrem Leben. Sie wollte einen einzigen Weg gehen. Aber sie wusste nichts mehr. Nicht, wie man leben sollte. Nicht, wie sie leben sollte. Das Leben in die Hand nehmen. Wie man so sagte.“

Ihren charakteristischen Stakkatostil nutzt Streeruwitz hier in hoher Vollendung. Verletzt und unsicher, überfordert und orientierungslos wie Amy suchen die Worte sich selbst.

Grammatische Herrschaftsstrukturen sind aufgebrochen. Das unverstehbare Netz an Überwachung und Kampf gegen Terror und Menschlichkeit findet in der sprachlichen Umsetzung eine kunstvolle Entsprechung. Irgendwie präsent sind immer auch die sexuelle Bedrohung und das Aufscheinen der desillusionierten Erkenntnis, dass es am Ende immer möglich ist, die Frau zu vergewaltigen. Hier wagt sich die Feministin Streeruwitz in eine Tabuzone, spitzt unerschrocken zu. Welche Rolle wird dieses mögliche körperliche Versehrtwerden immer spielen? Können Frauen dem entkommen, dieser Möglichkeit, am Ende doch vergewaltigt zu werden?

„Die Priester. Die Priester hätten zu allen Zeiten die Welt betrogen und die Jungfrauen in der Nacht vergewaltigt, bevor sie den Drachen geopfert werden sollten. Zu allen Zeiten. Also auch heute. Das sei alles nicht zu Ende. Mit der Gewalt. Das sei alles nicht zu Ende. Deshalb würde es ja nie zu Ende sein können. Mit der Gewalt.“ Das sagt Gregory, der Boss, zu einem Zeitpunkt, als Amy bereits ahnt, dass er es war, der sie betäubt, vergewaltigt und geschwängert hat.

Warum sich aber einlassen auf diese düstere Beklemmung? Auch weil sie eine sehr kunstvoll verwobene Beschreibung der aktuellen Gesellschaft ist mit Heidi Klum, Fukushima, auch Dominique Strauss-Kahn fehlt nicht als Chiffre. Und ja, weil es um Erkenntnis geht. Aber viel mehr noch geht es um ein forderndes Spiel, in dem der Leser zum Partner werden muss, damit es funktioniert. Es ist eine Poetik, die hoch verdichtet eine Wirklichkeit begreiflich macht, in der die persönliche Freiheit sich im Gleichschritt mit der verlorenen Souveränität des Staates auflöst. Schön ist das nicht. Aber wer Freude an Sprache und Denken und Begreifen hat, dem sei dieses Buch sehr empfohlen.

Marlene Streeruwitz: „Die Schmerzmacherin“. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 400 Seiten, 19,95 Euro