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Archiv-Artikel

Zeichen des Untergangs

Endzeiterwartungen bleiben am Bremer Theater beim ersten Saisonauftakt unter Hans Joachim Frey unerfüllt: Dafür darf die Jugendsparte erstmals zeitgleich mit der Oper die Spielzeit eröffnen. Pralles Gegenwartsmusiktheater und konzentrierte „Moby Dick“-Adaption: Beide begeistern auf ihre Weise

VON BENNO SCHIRRMEISTER

„Le Grand Macabre“ zum Spielzeitauftakt – das ist natürlich eine Frechheit. Zumindest, wenn man den Spielplan theaterpolitisch liest. Denn der ehemalige Bremer Generalintendant Klaus Pierwoß hatte seine letzte Saison mit leicht apokalyptischem und stark holprigem Slogan beworben: „Besuchen Sie unsere Aufführungen, solange das Bremer Theater noch in dieser Qualität zu erleben ist“, hieß es, ein wenig wie in einem vergessenen Song aus den 80er Jahren. Und jetzt beginnt der neue Mann, Hans Joachim Frey, seine Intendanz mit György Ligetis 1974 komponierter, 1996 komplett renovierter Oper „Le Grand Macabre“: pralles Musiktheater, hochklassig besetzt, schwungvoll dargeboten. Und saukomisch.

Grob vereinfacht lässt sich aus dem fröhlich wirren Drama eine Handlung rekonstruieren: Nekrotzar, ein ebenso obskurer wie Ich-bezogener Prophet verkündet im dekadenten Breughelland den Weltuntergang. Um zwölf Uhr Mitternacht soll es so weit sein. Das Volk hängt sich an seine Lippen, verfällt in lustvolle Panik. Und dann findet er einfach nicht statt, der Untergang. Das Leben geht weiter, womöglich noch gelöster als zuvor. So eine Frechheit. Und eine ganz persönliche Tragödie für den Wahrsager: Er löst sich auf in Selbstmitleid. Verschwindet. Ist nicht mehr. Tschüss dicker Klaus, gehab’ dich wohl.

Das ist allerdings nur eine Lesart, kaum abendfüllend und ausdrücklich nicht autorisiert: Das Bühnenbild von Klaus Grünberg und Monika Morsbach zeigt eher eine Mischung aus 70er-Jahre-Wohnzimmer und Labor. Und Provokationslust kann man der stark zurückgenommenen Regie Tatjana Gürbacas kaum vorwerfen: Wenn ächzend und stöhnend im zweiten Bild Mescalina der Wunsch nach „einer geilen Nacht“ erfüllt und die Dame schließlich zu Tode gevögelt wird, behalten jedenfalls alle Beteiligten die Hosen an. Und dem Programmheft zufolge lautet Ligetis „Botschaft“ nur, dass „wir im Jetzt“ leben und „jeder Moment seine eigene unverwechselbare Qualität“ haben sollte.

Aber jedem Anfang wohnen vieldeutige Zeichen inne. Und man tut gut daran, ihn auf Hinweise, neue Akzente und Abgrenzungsbemühungen zum Alten abzusuchen, die wiederum mit den einzelnen Inszenierungen wenig zu tun haben. Der zweite, sichtbarste Akzent, den die Intendanz Frey setzt, ist: Die Jugendabteilung des Moks – warum auch immer das so heißt – wird nicht mehr als mitunter renitentes Anhängsel gesehen. Sondern als echte, eigene Sparte.

Symbolisch findet das beispielsweise Niederschlag im neuen Logo des Gesamtbetriebs. Es besteht aus Hähnen in Gold, Orange, Braun und Magenta, die à la Stadtmusikanten, aufeinander gestapelt werden. Auch äußert es sich darin, dass die Jugendproduktionen auf alle Spielstätten des Bremer Theaters Zugriff erhalten. Neues Recht, das am Samstagabend direkt erprobt wurde: „Ahab“ heißt die Moks-Dramatisierung von Herman Melvilles „Moby Dick“ für einen Darsteller, die im Brauhauskeller Premiere feierte. Und mit dem nächsten Stück wird man sogar ins allerheiligste Schauspielhaus gehen.

Große Ensemble-Oper und Erzählstück-Solo, schniekes Traditionshaus am Goetheplatz und gruftiger Brauhauskeller: Ein doppelter Start also am Wochenende, und nur darin nicht gegensätzlich, dass beide Produktionen nicht die Lust auf, sondern das dringende Bedürfnis nach mehr wecken. Da ist „Le Grand Macabre“, eine Gegenwartsoper, wie Teile des – zum Saisonauftakt stets besonders zahlreichen – Repräsentations-Publikums mit Vorab-Bauchgrimmen bemerkt hatten. Denn Gegenwartsmusik – und erst recht Gegenwartsoper – ist eine angstbesetzte Kunstform.

„Le Grand Macabre“ ist insofern Affront wie auch beste Werbung. Ligeti nämlich hat das Werk ohne Verlust an Komplexität so komponiert, dass auch musikalische Analphabeten etwas mitbekommen: Der Vorhang öffnet sich, die Saallichter erlöschen, vom Schnürboden herab hängt eine riesige altertümliche Glühbirne. Die Darsteller blicken, Rücken zum Publikum, aus einem in die weiße Wand eingelassenen Panoramafenster mit abgerundetem Rahmen. Stille. Dann erklingt die erste Autohupe. Eine andere antwortet, mehrere fallen ein, ein Chor von Autohupen. Eine Ultrakurzouvertüre, die im vierten Bild wiederkehrt, und – dort von Telefonklingeln intoniert – den Anfang des dritten Bildes markiert – so eine Grobstruktur kapiert jeder, der nicht schläft. Und beinahe jeder erkennt die Zitate aus Offenbachs „Vie parisienne“ oder die schrille Parodie von Scott Joplins „Entertainer“.

Und auch wer’s nicht analysiert, bemerkt den Stimmungsumschwung, wenn Frederika Brillembourg als Mescalina den vermeintlichen Tod ihres Gatten mit warm timbriert-frühbarockem Lamento besingt: „Wehe“ – um dann, härter akzentuiert, anzufügen: „Wer soll jetzt putzen?“

Plastisch, aber nicht aufdringlich arbeiten die von Daniel Montané dirigierten Philharmoniker Komik und Tiefe der Musik heraus. Die Sänger dürfen und müssen ihre darstellerischen Fähigkeiten ausschöpfen: Da ist der wundervoll selbstgefällige Markus Marquardt, der als Nekrotzar mit ölig schwelgerischem Bariton und sadistischem Lächeln dem über den Zuschauerraum hereinströmenden Chor-Volk offenbart, dass es nun Aus ist mit der Welt. Da ist der subtile Counter-Tenor Matthias Koch, der als Fürst Gogo der Volksnahe in Melancholie verfällt. Und auf jeder Sprechbühne könnte Sara Hershkowitz als erzcoole Geheimpolizistin bestehen. Was allerdings schade wäre: Ihr flexibler, perfekt ausbalancierter Sopran ist ein Erlebnis.

Qualitätseinbußen sind nicht feststellbar im Vergleich zu früheren Spielzeiten; in der Oper nicht, die sich erst unter Pierwoß zum Aushängeschild mauserte, und in der erfolgreichsten Jugend-Sparte schon gar nicht: Das Moks war immerhin das einzige Ensemble des Bremer Theaters, das regelmäßig Einladungen zu den relevanten Theatertreffen erhielt. „Ahab“ wäre dafür auch ein Kandidat. Denn damit ist Regisseur Heiner Fahrenholz eine kleine Theater-Sensation gelungen. Trotz der – nein: Gerade durch die Reduktion auf einen Spieler erhält sich die Vielstimmigkeit des 800-Seiten Romans. Matthias Bleier ist der Kapitän Ahab, ist auch der Koch, dessen Predigt an die Haifische ein rabiat-komisches Glanzstück ist; er ist der schrullige Wissenschaftler, der über den „verzwicktesten Zweig der Zoologie“, nämlich die Cetologie oder Walkunde scheinbar ellenlang und doch nur minutenkurz vorträgt. Und der Erzähler, dessen berühmten ersten Satz er, wunderbar beiläufig, über den Rücken dem Publikum zuraunt: „Nennt mich Ismael.“

Mit einfachsten Effekten macht er die weit in die Tiefe gestaffelte Bühne – laut Fahrenholz eine Mischung „aus Arbeitszimmer und Behörde“ – mal zum Schiffsbauch, mal zum Heuer-Büro, mal zur schummrigen Küche, in der die Wal-Seiten auf den Tisch gewuchtet, zerhackt, der Tran und das Ambra abgelassen werden. Es ist nur Wasser, gewiss, aber in dem Moment, da Bleier es in seinen Bottich rinnen lässt, es vor sich her trägt und texttreu von den Vorzügen schwärmt, da ist es doch auch Walrat, aus der Kopfhöhle des Pottwals gewonnen. Nur gut, dass die „Pequenod“ am Ende untergegangen sein wird. Grausam. Erschütternd. Großes Theater. Vielleicht ist noch Zeit, ein Abo zu kaufen.

Nächste Aufführungen: „Le Grand Macabre“: 26., 28. + 30. 9.; „Ahab“: 3., 6. + 9. 10.; www.theaterbremen.de