: Der Mann, der Auschwitz befreite
SOLDATEN Was Anatoli Schapiro von der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee erlebte
WARSCHAU taz | Mitte Januar 1945 hörte Major Anatoli Schapiro zum ersten Mal vom Konzentrationslager Auschwitz, das sich rund 60 Kilometer südwestlich von Krakau befinden sollte. Die Deutschen würden dort systematisch Juden ermorden, erzählten ihm einheimische Polen. Bei den Kämpfen in Krakau fiel rund die Hälfte seines 900 Mann starken Bataillons. Es war Teil der 1. Ukrainischen Front der Sowjetarmee. Drei Tage später, am 27. Januar 1945, einem Samstag, standen er und seine Truppen vor den Toren von Auschwitz.
„Wir brauchten fast drei Stunden, bis wir die verminten Tore entschärft hatten. Was ich dann sah, werde ich nie wieder vergessen. Skelette von Menschen kamen mir entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt“, erzählte Schapiro kurz vor seinem Tod im Oktober 2005 dem Magazin Cicero. „Wir sind von Baracke zu Baracke marschiert. Durch den Wind waren wir bedeckt von Asche, der Schnee war schwarz. Die Krematorien waren noch warm.“
Von den insgesamt rund 1,5 Millionen Gefangenen in Auschwitz, waren rund 1,1 Millionen in dem KZ und Vernichtungslager ermordet worden, die meisten von ihnen Juden. SS-Männer trieben Zehntausende in Todesmärschen ins Deutsche Reich. Im Lager selbst waren nur rund 7.000 Kranke und Entkräftete geblieben. Sie sollten nach dem Willen der Nazis an Hunger und Kälte sterben.
In Schapiros Einheit wie auch in der gesamten 1. Ukrainischen Front kämpften Russen und Ukrainer, aber auch Weißrussen, Kasachen, Tataren und Juden. Als Polens Außenminister Grzegorz Schetyna kürzlich in einem Interview sagte, dass es Ukrainer waren, die das Tor von Auschwitz öffneten, empörte sich sein Amtskollege Sergej Lawrow in Moskau, dass dies eine „frevelhafte und zynische Äußerung“ sei. Es sei die Rote Armee gewesen, die Sowjetarmee, die Auschwitz befreit habe.
Schetyna bekräftigte daraufhin, dass Putin kein Monopol darauf habe, für die Befreier zu sprechen. In der 1. Ukrainischen Front hätten zwar viele Russen, aber auch viele Ukrainer gekämpft.
Der aus dem ukrainischen Krasnograd stammende Jude Anatoli Schapiro bekam für seine Befreiung von Auschwitz gerade mal zwei Rote Sterne an die Uniformjacke geheftet. „Es waren halt nur Juden im Lager“, sagte er enttäuscht.
Im Jahr 1991, als der Eiserne Vorhang fiel, verließen er und seine Frau Moskau. „Wir konnten die vielen Aufmärsche der Neonazis nicht mit ansehen“, sagte seine Frau Vita zur Erklärung. Auf seinem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in New York wird nur ein einziger Orden erwähnt, darunter keiner der 18 russischen. „Hero of Ukraine“ steht dort unter dem Davidstern.
GABRIELE LESSER