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Archiv-Artikel

Die Stunde der Überlebenden

AUSCHWITZ Etwa dreihundert Überlebende sind in die Gedenkstätte gekommen. Die sehr alten Frauen und Männer erinnern sich ihrer furchtbaren Qualen und unterstreichen, dass die Schoah sich niemals wiederholen darf

„Damals waren wir uns fremd, als wir nach Auschwitz kamen. Im Rauch aus dem Schornstein erst vereinten wir uns. Wir Geretteten wollen nicht, dass die Zukunft unserer Kinder so aussieht wie unsere Vergangenheit.“

ROMAN KENT

VON GABRIELE LESSER

WARSCHAU taz | Während draußen frisch gefallener Schnee liegt, erinnern die Auschwitz-Überlebenden Halina Birenbaum, Kazimierz Albin und Roman Kent vor dem Eingangstor des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau an die Gräuel der Nazizeit. Das Tor ist Teil eines Zeltes, in dem die zentrale Gedenkfeier am Dienstagnachmittag stattfindet. Als einziger Politiker ergreift dabei Polens Präsident Komorowski das Wort. Er mahnt, dass die Erinnerung an Auschwitz auch eine heutige Verteidigung der Werte „Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Respekt der Menschenrechte“ beinhalten müsse.

Komorowski nennt Auschwitz eine „Hölle von Hass und Gewalt“. Gegen jede Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen müsse entschlossen Widerstand geleistet werden. „Die Nationalsozialisten haben meine polnische Heimat zum ewigen jüdischen Friedhof gemacht“, sagt er vor mehr als 300 Auschwitz-Überlebenden, die aus aller Welt gekommen waren. Viele Staatsgäste, darunter Bundespräsident Gauck, sein österreichischer Kollege Heinz Fischer sowie die Präsidenten Frankreichs und der Ukraine, François Hollande und Petro Poroschenko, sind gekommen, um den Überlebenden zuzuhören.

Denn sie, nicht die Politiker stehen an diesem Tag im Mittelpunkt. Es ist der Tag der letzten noch lebenden Opfer. Am Morgen legen sie vor der Todeswand in Auschwitz I, dem sogenannten Stammlager, Blumen nieder und zünden Kerzen an. Hier hatte die SS im Zweiten Weltkrieg vor allem nichtjüdische Gefangene erschossen. Das Tor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ steht am Eingang des Lagers Auschwitz I.

Halina Birenbaum, die als Kind aus dem Warschauer Ghetto nach Auschwitz kam, erinnert sich: „Ich bin in Birkenau oft gestorben, aus Angst, aus Schmerz, wieder aus Angst. Beim Zusehen, wie andere elendiglich ums Leben kamen. Jeder kurze Moment erschien mir wie eine Ewigkeit und zugleich wie ein Abschied, da es womöglich keinen weiteren Moment mehr geben würde.“ Von Auschwitz kam Birenbaum nach Ravensbrück und Neustadt-Glewe, wo sie befreit wurde. Sie verlor ihre gesamte Familie im Krieg. Seit 1947 lebt sie in Israel. Ihr Buch „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.

Birenbaum ließ sich von ihrem Enkel zum Rednerpult vor das Eingangstor von Auschwitz II führen. Die paar Schritte der beiden vor aller Augen machten klar, dass es Birenbaum gelungen war, nach der Befreiung eine Familie zu gründen, dass aber Millionen ermordete Juden weder Kinder, Enkel noch Urenkel haben konnten.

„Einen Ausgang aus dem KZ gibt es nur durch den Schornstein“, erinnert sich Kazimierz Albin, der mit dem ersten Häftlingszug in Auschwitz ankam, an die „Begrüßung“ durch den damaligen Lagerleiter. Albin war damals 18 Jahre alt. Er wollte sich als junger Soldat der sich im Ausland formierenden Exilarmee der Polen anschließen, als er verhaftet wurde. „Wir kämpften jeden Tag ums Überleben und unsere Würde.“ 1943 gelang ihm die Flucht aus dem KZ. Albin versteckte sich bis Kriegsende unter falschem Namen in Krakau.

Roman Kent bricht die Stimme, als er den Zuhörern zuruft: „Damals waren wir uns fremd, als wir nach Auschwitz kamen. Im Rauch aus dem Schornstein erst vereinten wir uns. Wir Geretteten wollen nicht, dass die Zukunft unserer Kinder so aussieht wie unsere Vergangenheit. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um uns jedem Antisemitismus und Rassismus entgegenzustellen.“

Kent war zehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Zunächst pferchten ihn die Nazis zusammen mit seiner Familie im Ghetto Lodz ein. Von Auschwitz kam er noch nach Groß-Rosen und Flossenbürg, wo er befreit wurde. 1946 reiste er zusammen mit seinem Bruder Leon und einer ganzen Gruppe jüdischer Waisenkinder in die USA aus, wo sie adoptiert wurden.

Russlands Staatschef Wladimir Putin ist an diesem Tag in Auschwitz nicht zugegen. Auch eine Teilnahme an den Feierlichkeiten in Prag und im früheren NS-Ghetto Theresienstadt hat er abgesagt, obwohl Tschechiens Staatschef Milos Zeman ihn eingeladen hatte. Die Vereinigung Jüdischer Gemeinden in Tschechien aber mochte Putin nicht bei ihrem Gedenken dabeihaben.