Dramatischer Wertverlust

KRISE lmmer mehr Zuschauer und Sponsoren wenden sich vom türkischen Fußball ab. Sie haben genug von Fangewalt, Manipulationsskandalen und Missmanagement

Dabei sind die Vereine der Süperlig mit aberwitzigen Summen im Minus

VON TOBIAS SCHÄCHTER

Was wäre aus Lionel Messi geworden, hätte er seine Kindheit in der Türkei verbracht? Fatih Terim, der Nationaltrainer der Türkei, nutzte die Beantwortung dieser Frage auf einem Trainerkongress Anfang Januar in Istanbul zu einer radikalen Abrechnung mit dem Fußball in seinem Land. In der Türkei wäre Messi zunächst als „Zwerg“ verspottet worden, glaubt Terim, dann sein Talent in den Medien ausgestellt worden und er schließlich an den Erwartungen zerbrochen. Terim hat schon recht: Der selbst verschuldete Niedergang des türkischen Fußballs hat viel damit zu tun, dass Talenten keine Zeit zur Entwicklung gegeben wird und man sie schon im Teenageralter zu neuen Weltstars ausruft.

Als etwa Muhammed Demirci zwölf Jahre alt war, wollte der FC Barcelona den schmächtigen Jungen von Besiktas Istanbul für eine Million Euro Ablöse verpflichten. Der Hype war riesig, der kleine Muhammed jonglierte den Ball in einer TV-Sendung vor Millionenpublikum. Als der mittlerweile 20-Jährige nun nach einer erfolglosen Ausleihe vom Zweitligisten Gaziantepspor zu Besiktas zurückkehrte, war der Spott groß. In der Türkei nannten sie Muhammed Demirci übrigens einst den „neuen Messi“.

Fatih Terim, 61, geißelte auch die Intransparenz und die Einmischung der Politik in den türkischen Fußball. Terim steht für die Erfolge des türkischen Fußballs ebenso wie für seine Verfehlungen. Er gewann 2000 mit Galatasaray den Uefa-Cup und zog mit der Nationalmannschaft bei der EM 2008 ins Halbfinale ein. Terims aktuelles Team ist gerade dabei, zum vierten Mal hintereinander an der Qualifikation für ein großes Turnier zu scheitern. Dabei schreibt es Schlagzeilen, weil ein Bekannter des Spielers Gökhan Töre die Kollegen Hakan Calhanoglu und Ömer Toprak mit einer Pistole bedroht. Der tiefe Fall des türkischen Fußballs ist selbst verschuldet, der Ruf ruiniert. Immer mehr Menschen wenden sich von ihrem Lieblingssport ab.

Jüngst kündigte Murat Ülker, 55, Chef der Yildiz Holding und reichster Mann der Türkei, mit markanten Worten den Ausstieg seines Unternehmens „Ülker“ aus dem Sponsoring des Fußballs an. In den vergangenen neun Jahren investierte man 215 Millionen Dollar in den Sport. Die Marke Fußball in der Türkei habe dramatisch an Wert und Attraktivität verloren, erklärte Ülker, die Atmosphäre im Sport stimme nicht mit dem Konzept des Fairplay überein: Es mache daher nicht länger Sinn, ein Spiel zu unterstützen, das einen solchen Verfall an Werten und Interesse habe.

Ab der neuen Saison müssen die Nationalmannschaft, aber auch Großklubs wie Fenerbahce und Galatasaray ohne das Geld des Lebensmittelmultis auskommen. Dabei sind die Vereine der Süperlig mit aberwitzigen Summen im Minus, Galatasaray zum Beispiel steht vor einem Schuldenberg von 289 Millionen Euro. Zuletzt besuchten Spieler und Offizielle des Klubs Staatspräsident Erdogan in dessen neuen Palast in Ankara. Beobachter vermuten einen Bittgang wegen der horrenden Steuerschulden.

Der Vereinsfußball leidet zudem unter dem Hass zwischen den Fangruppen, der Zuschauerschwund ist riesig. Kein einziges Stadion der 18 Erstligisten in der Süperlig, die am Wochenende in die Rückserie startet, erreicht bei den Heimspielen im Schnitt eine Auslastung von 50 Prozent. Viele Fans boykottieren das neue elektronische Ticketsystem, die Regierung wolle nur ihre Daten abgreifen, so die Kritiker. Derzeit stehen Mitglieder der Besiktas-Fan-Vereinigung Carsi nach den regierungskritischen Demonstrationen im Frühjahr 2013 vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Diesen Vorwurf halten Kritiker ebenso für politisch motiviert wie die Wendung im großen Manipulationsskandal.

In der Saison 2010/11 soll sich unter anderem Fenerbahce Istanbul den Meistertitel erkauft haben. Fenerbahces Präsident Aziz Yildirim war wegen der „Bildung einer kriminellen Bande“ zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Der TFF hatte einen Zwangsabstieg der Großklubs Fenerbahce und Besiktas nur durch eine handstreichartige Änderung seiner Statuten verhindert. Die Uefa hatte Fenerbahce für zwei Jahre von seinen Wettbewerben ausgeschlossen, diese Sperre wurde vom Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne bestätigt, der Einspruch von Fenerbahce gegen das Uefa-Urteil vom Schweizer Bundesgericht abgeschmettert.

Nun aber soll das Verfahren in der Türkei neu aufgerollt werden. Das beschloss ein Gericht letzte Woche, obwohl keine neuen Beweise vorliegen. Die Angeklagten profitieren von Gesetzesänderungen im Zuge einer drohenden Korruptionsklage gegen vier Minister der Regierung des ehemaligen Ministerpräsidenten und aktuellen Staatspräsidenten Erdogan. Die Ermittlungen gegen die Minister werden nach einem umstrittenen Parlamentsbeschluss vergangene Woche eingestellt. Wie Erdogan inszeniert sich Fenerbahce-Präsident Yildirim als Opfer eines Komplotts.

Ab der kommenden Saison ist es für türkische Erstligateams übrigens möglich, elf ausländische Spieler aufzustellen. Das dürfte das Startsignal für noch hemmungslosere Geldverschwendung der ehrsüchtigen Vereinsbosse sein. Und für künftige „neue Messis“ wird es nicht einfacher, sich durchzusetzen.