Dicke in Gesellschaft

GEWICHT „Bauchgefühle“ von Susann Sitzler macht nicht schlank. Soll es auch nicht. Das Buch sagt die Wahrheit: über alle, die mit dem dicken Körper leben müssen

Mein Körper sagt die Wahrheit. Ich sehe so aus, wie eine dick veranlagte Frau aussieht in einer Gesellschaft, in der Essen im Überfluss vorhanden ist

VON JENNI ZYLKA

Die Bestsellerautorin Susanne Fröhlich hat vor ein paar Jahren mal bei „Wetten, dass..?“ verloren. Als genüsslichen Seitenhieb auf den Inhalt ihres Buchs „Moppel-Ich“ musste sie zusammen mit Moderator Thomas Gottschalk und Christine Neubauer auf eine Industriewaage steigen.

Der im Buch launig und selbstironisch ihre Pfunde verdammenden Dame fiel angesichts des gemeinsamen Livewiegens sämtlicher Schalk aus den Zügen. Sie weigerte sich so lange, bis sie schließlich von Gottschalk mit sanfter Gewalt hinaufgezwungen wurde, und jedeR FernsehzuschauerIn, der/die den Kampf miterlebt hatte, hatte die Gelegenheit, die Differenz und somit ihr tatsächliches Gewicht am großen, leuchtenden Digitaldisplay abzulesen.

Was die Waage anzeigte, ist natürlich schnurzpiepegal. Die saure Miene zeigte allerdings, dass Susanne Fröhlich wie auch einige andere ähnliche „Hilfe, ich bin zu dick“-Autorinnen das Thema Gewicht nur scheinbar mit Galgenhumor abhandeln.

Ein Essproblem ist eben nicht witzig. Es kann verschiedenste Gründe haben, kann in verschiedensten Ausführungen daherkommen, manche davon tödlich. Es ist letztlich ein Körperproblem und darum essenziell.

So fröhlich moppelig

Die Journalistin und Autorin Susann Sitzler hat das in ihrem soeben im C. H. Beck Verlag erschienenen Buch „Bauchgefühle“ erkannt: Sie hält sich nicht mit Anekdoten wie „Meine Oberarme sind so dick wie die Oberschenkel eines Models“ auf, sie lästert nicht über dünne, angeblich missgünstige Frauen, sie erfüllt in keiner Weise das Klischee der lustigen Moppeligen, mit der man gemeinsam den „Kampf“ gegen die Waage verliert, aber vielleicht dennoch wider Erwarten den richtigen Mann findet, der einen „so liebt, wie man ist“.

Zudem schreibt Sitzler aus eigener Erfahrung – im Gegensatz zur feministischen Psychoanalytikerin Susie Orbach, die mit dem „Anti-Diät-Buch“ oder „Bodies“ kluge und geschulte Diagnosen weiblicher Körperstörungen und deren Wechselwirkungen zur Gesellschaft lieferte. Susann Sitzler „lebt mit moderatem Übergewicht“, wie es im Buch heißt, war aber auch schon mal stark übergewichtig, ist diäterprobt und in Sachen Analyse einen extrem wichtigen Siebenmeilenschritt weiter: Sie möchte herausfinden, was ein dicker Körper für unsere Gesellschaft bedeutet.

„Die Dicken werden nicht dünn, obwohl sie wissen, wie es geht“, sagt sie. „Warum nicht?“ Und dann schaut sie sich selbst an: „Mein Körper sagt die Wahrheit über mich. Ich sehe so aus, wie eine dick veranlagte Frau aussieht in einer Gesellschaft, in der Essen im Überfluss vorhanden ist.“

Susann Sitzler fragt nach, ob das angebliche „Immer-dicker-Werden“, das seit Jahren als dräuendes Horrorszenario durch alle gesundheitsbewussten Kreise rollt, tatsächlich so eine ungesunde und furchtbare Vorstellung ist.

Sie analysiert die Kampagne der ehemaligen Ernährungs- und Verbraucherministerin Renate Künast, der „Epidemie Adipositas“ (Künast in „Die Dickmacher“) auf den „bizarr deformierten“ Leib zu rücken.

Auch das „Fat Rights Movement“, die Dickenbewegung in den USA, wo angeblich jede Woche irgendein Kran zum Menschen-aus-dem-Haus-Hieven ausrückt, hat Sitzler in ihrem Buch beschrieben. Sie hat Gesundheits- und Gewichtsstatistiken neu bewertet und in Gesprächen unterschwellige Beleidigungen ausfindig gemacht, zitiert Freunde, Freundinnen und Fremde zum Thema.

Und sie stellt der gut meinenden, empörten Konfektionsgröße 38-Öffentlichkeit, die – wegen der teuren Behandlung der kranken Dicken – sich um steigende Krankenkassenbeiträge sorgt, ihre hintergründigen und stichhaltigen Überlegungen in diesem Buch vor, dem man am liebsten laut „Ja! Genau! Wurde auch Zeit!“ entgegenrufen würde. Denn eigentlich, und das sickert bei Sitzler endlich einmal in geradliniger Ehrlichkeit aus jedem Satz, müsste man doch längst über das dämliche Thema Diät hinweg sein. Müsste man auch längst kollektiv die bekannten Fälschertricks der Frauenzeitungen belächeln, die weibliche Körper fast nie so abbilden, wie sie wirklich sind.

Man müsste längst an einem Punkt angekommen sein, an dem man das glücklicherweise und auch noch in so entzückender Form vorhandene Essen einfach gemeinsam genießen könnte, anstatt Vokabeln wie „Size Zero“ oder „Traumberuf Model“ im Mund zu bewegen. Man müsste längst verinnerlicht haben, dass lebendige Kleiderstangen die Erfindung männlicher Modedesigner sind: „Das haben wir nicht bestellt“, zitiert Sitzler ihren Mann beim Durchblätte, aus eigener Erfahrungrn von Modezeitungen mit Hungerhaken in Animalprint.

Man müsste akzeptiert haben, dass das Gewicht der sogenannten Ersten und Zweiten Welt – bis auf wenige, überdimensionale Ausnahmen – typisch ist: „Dicke Körper sagen die Wahrheit in einer Gesellschaft, in der es dauerhaft genügend Nahrung gibt und in der kaum noch schwere körperliche Arbeit verrichtet wird. Sie sagen die Wahrheit über eine Gesellschaft, in der große Teile der Nahrung von einer Industrie bereitgestellt wird, die diese Nahrung verfeinert und verändert, ihren Nährwert aushöhlt und durch kalorienreiche Zusatzstoffe ersetzt.“

Dabei ist „Bauchgefühle“ keinesfalls eine gutmenschelnde Anklageschrift für Lohas, die ihre Tofus am liebsten selbst züchten. Sitzler hat einfach nur lange gekämpft, sich und ihre Umwelt lange und genau beobachtet und es geschafft, ihre Schlüsse in so einfache wie einleuchtende Worte zu kleiden. „Die persönliche Wahrheit meines Körpers liegt bei Kleidergröße 44“, schreibt Sitzler. „Irgendwo zwischen 80 und 90 Kilo liegt mein wahres Gewicht.“

Der Bestseller „Moppel-Ich“ hört nach langen, lustig gemeinten, schlechten Erfahrungen mit Diäten doch wieder nur mit als Anti-Diät-Tipps getarnten Lebensmittelempfehlungen auf, mit einer „Diätbuchhitliste“, mit Ratschlägen wie „kein Weißmehl, wenig Zucker, viel Bewegung“, aber selbstredend darf man auch mal über die Stränge schlagen und mit einem Riegel Schokolade oder einem Scheibchen Gänsebraten „sündigen“. Dann aber „die Knödel liegen lassen“.

Haben wir nicht bestellt

Obwohl die Autorinnen Jahrgang 1962 (Fröhlich) und Jahrgang 1970 (Sitzler) sind und sich wie so viele dieser Generation sowohl mit der zart sprießenden Frauenbewegung als auch mit essproblembeladenen Müttern herumgeschlagen haben, sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn „Bauchgefühle“ nicht mal endlich die Kehrtwende in der leidigen Diskussion einleitete.

Ob man so wie „Atomkraft? Nein danke“ dabei den Slogan „Ein bisschen rund, na und?“ wiederbeleben sollte, müsste allerdings unbedingt noch einmal zur Diskussion gestellt werden.

■ Susann Sitzler: „Bauchgefühle. Mein Körper und sein wahres Gewicht“. C. H. Beck, 2011, 12,95 Euro