: Postkarnevalistischer Irrsinn
DIALOGIZITÄT Das Labyrinthische ist Programm: Juri Andruchowytschs früher Roman „Perversion“ führt mit zwanghafter Ironie und heiligem Ernst zugleich in ein Gewirr von Stimmen
Das wäre ja nun wirklich eine verrückte Idee, sagt der Schriftsteller Stanislaw Perfecki im Interview: über Venedig zu schreiben. Was es da denn noch zu schreiben gäbe? „Nein, so blöd bin ich nicht.“ Und schon ist man eingetreten in den ersten Kreis der Ironie und Spiegelungen, der immer weitere Kreise nach sich ziehen wird, bis man sich in ihnen verloren hat wie im Gassengewirr der Lagunenstadt selbst.
Für den russischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin war der Karneval die Umkehrung der herrschenden Machtstrukturen; sein Begriff der Dialogizität beschrieb eine Literatur, die sich den Herrschaftsmustern des Konventionellen verweigert und stattdessen jede Form zulässt. Ein vielstimmiger Chor von Stimmen, Stilen, Diskursen, die zu einem parodistischen Ganzen zusammenfließen. Unernst bis zur äußersten Grenze – das kann höchst anstrengend werden.
In diesem Sinne ist „Perversion“, Juri Andruchowytschs 1996 erschienener und nun von Sabine Stöhr in einem Herkulesakt übersetzter Roman, Literatur gewordene Theorie. Das mag seinerzeit nicht nur vom Autor selbst als ein triumphaler Befreiungsschlag empfunden worden sein: Alles ist erlaubt, also macht man es auch. Es stellt sich gerade im Fall von „Perversion“ mehr noch als beim Vorgänger „Moscoviada“ die Frage: warum eigentlich? Warum all diese doppelten und dreifachen und vierfachen Böden? Wozu die Selbstverständlichkeit, mit der psychedelische Halluzinationen, feministische Rhetorikgewitter und konventionelle erzählerische Passagen nebeneinanderstehen?
Andruchowytsch verknüpft die russische Tradition des Absurden mit dem Post- oder auch Postpostmodernen, und das geht im konkreten Fall so: Der ukrainische Dichter und Undergroundstar Stanislaw Perfecki kommt auf verschlungenen Pfaden nach Venedig, um an dem von einem greisen Adligen initiierten Kongress „Post-karnevalistischer Irrsinn der Welt: Was dräut am Horizont?“ teilzunehmen. Dort dräut eine ganze Menge, zumeist Unheilvolles. Zusammengehalten wird dieser Wust disparater Schriften von einem Herausgeber mit dem Kürzel „J. A.“, der nach dem vermeintlichen Selbstmord Perfeckis in Venedig nicht nur, wie das Testament verrät, Rilkes gesammelte Werke in sechs Bänden, sondern auch die auf diversen Medien gespeicherten Aufzeichnungen Perfeckis erbt. Perfecki verliebt sich bereits auf dem Weg von München nach Venedig in die auf dem Kongress tätige Übersetzerin, die wiederum ihrerseits im Auftrag einer diffusen Organisation den Schriftsteller überwacht und Berichte abfasst. Auch die stehen, versteht sich, im Roman.
Das Labyrinthische ist Programm, so wie das Spiel auch: „Der Gestank des Wassers, der Geruch der Frauen, die sterbenden Gebäude, das Gras in den Ritzen zwischen den Steinen, die billigen Kaschemmen, die sentimentalen Geschichten, an die man hier mehr glaubt als an die Bibel, die halb zerfallenen Bücher, wässrigen Weine, feuchten Wände, Atlaskissen, Flaschen von tausend Kalibern, Tauben, Touristen, Huren, Gespenstern“ – all das wird in voller Ironie und im heiligen Ernst zugleich beschworen. Das grandioseste Kapitel spielt auf der Friedhofsinsel San Michele, wo Perfecki sich mit dem Vikar grausam betrinkt und in einen verbalen theologischen Ringkampf einsteigt. Wenn er sich nicht selbst die formalen Zügel anlegt, ist Juri Andruchowytsch ein mitreißender Erzähler. CHRISTOPH SCHRÖDER
■ Juri Andruchowytsch: „Perversion“. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 334 Seiten, 22,90 Euro