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Archiv-Artikel

Monsterwellen im Wattenmeer

Sturmfluten im Norden sind nicht häufiger geworden, aber schlimmer, sagt das Bundesamt für Hydrographie in Hamburg. Und bestätigt erstmals 16 Meter hohe Riesenwellen in der Nordsee

HOCHWASSER ETC.

Hochwasser gibt es an Nordsee zweimal täglich. Das Mittlere Hochwasser (MHW) liegt zurzeit bei 2,09 Meter über Normalnull (NN). Zu einer Sturmflut kommt es nur dann, wenn das auflaufende Wasser von mächtigem Rückenwind in Flussmündungen gedrückt wird. Dann gibt es drei Kategorien: Die Sturmflut mit 1,5 Meter über MHW, die schwere Sturmflut mit 2,5 Meter und die sehr schwere Sturmflut mit mindestens 3,5 Meter über MHW. Die bisher schwerste Sturmflut war am 3. Januar 1976 mit 4,67 Meter über MHW. Bei der Flutkatastrophe am 16. Februar 1962 in Hamburg mit mehreren hundert Toten stiegen die Pegel auf 4,0 Meter über MHW – so hoch waren damals die Deiche. SMV

VON SVEN-MICHAEL VEIT

„Ja“, sagt Bernd Brügge, „es gibt vereinzelte Monsterwellen auf der Nordsee.“ Mindestens 16 Meter hoch sei ein Brecher vor der ostfriesischen Insel Borkum im Februar gewesen, bestätigt der Sturmflutexperte des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH): „Vielleicht war er sogar 18 Meter – so ganz genau wissen wir das nicht.“ Denn die Meldung des Messpegels einige Kilometer nordwestlich von Borkum hatten die Experten in der BSH-Zentrale in St. Pauli zunächst nicht glauben wollen. Dann aber stellte Tage später nach dem Sturm eine Wartungscrew fest, dass zwar das Messgerät leicht zerdellt war, vor allem aber das massive Eisengeländer des Pegelturms und das, sagt Brügge, ist in gut 15 Meter Höhe.

Verantwortlich für die Monsterwelle war der Orkan Kyrill gewesen, der am 18. Januar mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 225 Stundenkilometer über Norddeutschland hinweg brauste, den Bahnverkehr weitgehend zum Erliege brachte, große Teile des Harzes entwaldete und vor der Wesermündung den Fischkutter „Hohe Weg“ mit fünf Mann Besatzung in die Tiefe riss.

Solche Stürme aber sind keineswegs häufiger geworden, wiesen Brügge und sein Kollege Sylvin Müller-Navarra gestern in einen Pressegespräch aufgrund von Langzeitbeobachtungen nach. In den 90er Jahren sei es mit regelmäßig mehr als zwölf Sturmfluten pro Jahr viel stürmischer gewesen. Den Spitzenwert hält immer noch das Jahr 1990 mit 21 Sturmfluten: 15 normale, fünf schwere und zwei sehr schwere (siehe Kasten). Im neuen Jahrtausend sind es durchschnittlich nur acht im Jahr, davon insgesamt nur fünf schwere oder sehr schwere: zuletzt Kyrill.

In den vergangenen 50 Jahren habe es eine Verschiebung der Sturmsaison vom Herbst in den Winter gegeben, zeigen die Daten des BSH. Nicht mehr Oktober bis Dezember sind die windigsten Monate, sondern Januar bis März. „Warum das so ist, wissen wir auch nicht“, gibt Müller-Navarra zu.

Dafür weiß er aber, dass es im Durchschnitt eine Sturmflut weniger pro Jahr gibt. Die durchschnittlichen Pegelstände hätten sich jedoch um fünf Zentimeter erhöht und die der sehr schweren Fluten sogar um 28 Zentimeter. „Wir waren lange vorsichtig mit vorschnellen Behauptungen über den Klimawandel“, räumt selbst BSH-Präsident Peter Ehlers ein: „Jetzt sagen auch wir, es gibt untrügliche Anzeichen für eine Erwärmung.“

Der Anstieg des Meeresspiegels, den internationalen Experten für die Nordsee mit 20 bis 80 Zentimeter bis zum Jahr 2100 angeben, wird aber nach Einschätzung der BSH-Experten bis 2050 für den Küstenschutz keine Rolle spielen. Für die Zeit danach aber müssten schon jetzt klare Planungen über den Schutz und die Entwicklung der Küstenregionen gemacht werden.

In einem Punkt beziehen die Wissenschaftler des Bundesamtes klar Position gegen die Befürchtungen von Umweltschützern. Die Ausbaggerungen von Elbe und Weser für Großcontainerschiffe hätten bislang nicht zu mehr und stärkeren Sturmfluten geführt. „Dafür gibt es nachweisbar keine Daten“, sagt Müller-Navarra.

Eine wesentliche Änderung sei jedoch seit etwa 1970 nachgewiesen. Seitdem laufen die Hochwasser in der Elbe mit unschöner Regelmäßigkeit um zwei bis drei Meter höher auf als davor, weist das BSH nach. Den Grund kennt Müller-Navarra auch: Damals waren nach der großen Flut von 1962 die Deiche erhöht und Sperrwerke an den Nebenflüssen fertig gestellt worden. „Seitdem ist der Fluss in ein Korsett gezwängt, und dann steigt das Wasser eben.“

Und die Erklärung, warum die Monsterwelle im Februar Borkum nicht weggespült hat, hat Brügge auch parat. „Die brechen weit vor der Küste bei Wassertiefen unter zehn Metern.“ Das flache Wattenmeer ist der beste Wellenbrecher.