Das Heil aus der Datenwolke

TRANSMEDIALE Das Medienkunstfest im Haus der Kulturen der Welt zeigt sich in seiner „Capture All“-Schau mit Denkanstößen zur umfassenden Datensammelei

■ Die Transmediale im Haus der Kulturen der Welt dauert noch bis zum Sonntag. Das Festival für Medienkunst und digitale Kultur wurde 1988 im Umfeld der Berlinale als Nebenprogramm der Sektion „Internationales Forum des Jungen Films“ gegründet. Damals nannte sich das Festival noch „VideoFilmFest“.

■ Das gleichfalls bis Sonntag dauernde CTM-Festival nannte sich noch vor wenigen Jahren ausgeschrieben Club Transmediale, was so – mit den Namen – die Nähe und auch die Absetzbewegung zur Transmediale beschreibt: 1999 wurde der Club als musikalische Begleitveranstaltung zur Transmediale gegründet und hat sich seitdem zu einem eigenständigen Festival entwickelt, zuerst als Fachfestival für elektronische Musik und seit einem Jahrzehnt auch weiter ausgreifend für allerlei experimentelle Zugriffe auf Musik.

VON MEIKE LAAFF

Der Name von Jennifer Lyn Morone kostet gerade einmal einen Cent. Ihre Sozialversicherung würde sie für 4.999 Dollar herausgeben, ihre IP-Adresse für knapp unter 200 Dollar. Statt es irgendwelchen Firmen zu überlassen, mit Daten über ihre Person zu handeln, hat die Künstlerin Jennifer Lyn Morone den Spieß umgedreht und eine Firma gegründet, über die sie nun selbst Daten über sich sammelt und verkauft. Die Urkunde, die deren Gründung belegt, ist ebenso Teil der Transmediale-Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt wie eine abgegrabbelte Preisliste für das Datenprodukt Morone.

„Extremer Kapitalismus“ sei das, erklärt Morone in einem Erklärungsvideo, in dem eine Kamera sie umkreist. Und: „Wir sind alle Datensklaven.“ Jeder solle seinen fairen Anteil bekommen, nicht nur Unternehmen sollen mit Daten Geld verdienen.

Daten-Selbstermächtigung – das ist ein Thema, das von Praktikern wie Theoretikern aus der datenverarbeitenden Szene derzeit auch entdeckt ist. Damit ist die Transmediale mit ihrem diesjährigen Thema „Capture All“ wieder nah dran an den aktuellen Debatten: welche Folgen das Erfassen und Auswerten von immer mehr Daten aus allen Bereichen unseres Lebens hat, ist in der Tat eine der drängendsten Fragen der Gesellschaft.

Während die Transmediale aber in ihrem Bühnenprogramm es schafft, das Thema mit so vielen theoretischen Konzepten zu bewerfen, bis kein klarer Gedanke darüber mehr möglich ist, schaffen es die meisten Exponate der kleinen von Daphne Dragona und Robert Sakrowski kuratierten Ausstellung, zugänglich zu bleiben und wertvolle Denkanstöße zu geben.

Ein Big-Data-Orakel

So wie „Stakhanov“ vom Künstlerkollektiv Art is Open Source (AOS): ein Big-Data-Orakel, das in einer Art Schrein Vorhersagen ausspuckt, die geräuschvoll mit einem Nadeldrucker auf Papier festgehalten und mit einer Computerstimme vorgelesen werden. Dazu werden Informationen aus sozialen Netzwerken ausgewertet, Verbindungen hergestellt und so Annahmen über die Zukunft herausposaunt. Es wird also eigentlich nur getan, was unzählige Big-Data-Dienste den ganzen Tag ohnehin tun.

„Stakhanov“ versucht allerdings, dieses Setup als Neo-Religion zu enttarnen: den blinden Glauben daran, dass in Datenbergen Wahrheit liege, den virtuellen Astralleib, den wir mit Hilfe von Facebook, Google, Amazon und Apple kreieren, das heilige Wort, das uns aus der allwissenden Datenwolke verkündet wird.

Einen mindestens ebenso bitterbösen und doch den Realitäten entsprechenden Blick wagt die Installation „Civilization VI – the Age of Warcraft“ von der Eastwood Real Time Strategy Group: der internationale Cyberwar kann als Computerspiel nachempfunden werden, basierend auf dem Strategie-Klassiker „Civilization“. NSA, deutsches Cyberabwehrzentrum, Cyberwareinheiten aus Israel und China sowie Computerwaffenhersteller wie Trovicor treten hier gegeneinander an und fechten mit Malware und Trojanern gegen Hacktivisten die Herrschaft in den Netzen aus. Damit das alles für Nichtspieler nicht zu kryptisch bleibt, wird auf einer großen Leinwand vorgespielt und kommentiert. Obwohl kaum etwas näher liegt, als den Krieg in den Netzen zu gamifizieren, schafft die Installation, den Abstraktionsgrad von Cyberangriffen und deren Komplexität erfahrbar zu machen, wie es nur wenige Texte oder Filme zum Thema schaffen.

Biometrische Vermessung

Dieses Niveau kann nicht jedes Exponat der Ausstellung halten: Timo Arnalls großformatige Projektionen von Fotos aus einem gigantischen Datenzentrum transportieren nicht mehr als die banale Botschaft von der sichtbar gewordenen Cloud und waren genau so schon in unzähligen Magazinen abgebildet. Und auch Zach Blas’ „Face Cages“, hinter deren biometrischem Vermessungsraster Gesichter verschwinden, lassen zusätzliche Interpretationsebenen vermissen.