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Archiv-Artikel

„Integration von Anfang an ist das beste“

Integrative Regelklassen (IR) führen nicht zum erwarteten Erfolg, sagt Schulforscher Wulf Rauer. Die meisten liegen in sozialen Brennpunkten, was zu einer doppelten Benachteiligung führe. Integrationsklassen dagegen schneiden gut ab

WULF RAUER, 62, ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Empirie an der Uni Hamburg und Mitbegründer der dortigen Arbeitsstelle für Integrationspädagogik.

taz: Herr Rauer, die CDU fragt in einer großen Anfrage nach einem Aufsatz, den Sie und ihr Kollege Karl-Dieter Schuck verfassten. Demnach schneiden die in Hamburg umkämpften Integrativen Regelklassen (IR) schlechter ab als vergleichbare Schulen.

Wulf Rauer: Die Arbeit liegt schon weit über ein Jahr zurück. Wir haben die Daten der Grundschulstudie KESS, mit der im Jahr 2003 alle Viertklässler getestet wurden, für eine Analyse aller integrativen Schulformen verwendet. Wir hatten gehofft, dass wir dort positive Befunde finden.

Aber nicht gefunden?

Es gibt ein geteiltes Bild. Die Integrationsklassen (I) schnitten besser ab, die Integrativen Regelklassen (IR) schlechter. Dazu muss man die Entstehungsgeschichte kennen. Die I-Klassen wurden vor über 20 Jahren auf Initiative von Eltern eingeführt. Dort lernen je drei, vier Schüler mit körperlichen Behinderungen oder Sinnesschädigungen mit anderen zusammen. Die Klassen sind mit 20 Kindern sehr klein. Die IR-Klassen dagegen besuchen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen, in der Sprache oder im emotional-sozialen Bereich. Sie wurden auf behördliche Initiative eingerichtet. Dabei wurde darauf geachtet, dass sie primär in sozialen Brennpunkten liegen. Sie sind so groß wie normale Klassen und haben zusätzlich eine halbe Sonderpädagogenstelle.

Und schneiden schlecht ab?

Schon die wissenschaftliche Begleitung der IR-Schulen von 1999, an der Schuck und ich beteiligt waren, ergab, dass dies ein Chancen-Risiko-Modell ist. Das heißt, es kann gut gelingen, kann aber auch deutlich scheitern. Die neueren KESS-Daten ergeben, dass IR nicht so abschneidet, wie man es sich wünscht. Knapp die Hälfte dieser 38 Schulen schneidet schlechter ab als die Schulen mit vergleichbarer sozialer Zusammensetzung, das heißt, sie unterschreiten ihren eigenen Erwartungswert.

Und die I-Klassen?

Die ergeben ein anderes Bild und haben eine andere soziale Zusammensetzung. Eltern, die ihre Kinder dort hingeben, tun dies ganz bewusst. Der soziale Status liegt über dem Hamburger Durchschnitt und sogar meist über dem der Parallelklassen an derselben Schule. Durch die günstigere Zusammensetzung und durch den Systemvorteil kleine Klasse kommt es zu einer doppelten Bevorteilung dieser Schüler und sie übertreffen ihre Erwartungswerte, die bereits über dem Hamburger Durchschnitt liegen.

Wieso liegt IR so weit hinten?

Es gibt IR-Schulen, da funktioniert es ganz hervorragend. Aber es gibt auch durch die negative Zusammensetzung der Schülerschaft eine Verdoppelung der Benachteiligung. Es gibt Klassen, da fehlt praktisch das obere Leistungsspektrum und ein großer Teil der Kinder würde sonst eine Sonderschule besuchen.

Was sollte passieren?

Wir müssen diese Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und intensiv darüber beraten. Unsere Ausführungen haben einen Schwachpunkt. Es wurden alle Viertklässler getestet, es ist aber bei KESS nicht bekannt, wie lange die Kinder schon in ihrer Klasse sind. Es kommt vor, dass normale Grundschulen in Klasse drei sich ihrer schwierigen Schüler entledigen und diese zur benachbarten IR-Schule schicken, die ja alle nimmt. Es gibt jetzt eine neue Untersuchung am Landesinstitut für Lehrerbildung, die Schülerlaufbahnen ab der ersten Klasse verfolgt. Klar ist auch: es ist nicht untersucht, wie es diesen Kindern an der Sonderschule ergangen wäre. Es gibt seit 1945 keine deutschsprachige Untersuchung, die belegt, dass Kinder in Förderschulen mehr profitieren als in ihren Regelschulen.

Also Integration verbessern?

Meine feste Überzeugung ist immer noch, dass Integration von Anfang an das beste ist, vor allem wenn das gesamte Leistungsspektrum vorhanden ist. Aber man muss die Lehrer besser qualifizieren. Sie brauchen ein feines Instrumentarium für Diagnose und Fördermöglichkeiten.

Und man müsste wohl für eine soziale Mischung sorgen?

Ja, die ist besonders wichtig für die leistungsschwächeren Kinder. Leider passiert durch größere Freiheit der Eltern bei der Schulwahl gerade das Gegenteil.