: Erneuerung des Gründungsmythos
Das Hamburger Kampnagel-Gelände gilt als größter, aber auch schwierigster Spielort für die freie Theaterszene. Am Wochenende feierte die neue Leiterin Amelie Deuflhard zum Auftakt eine „Besetzungsorgie“ mit Theater und Karaoke
Café, Friseur, Casino, T-Shirt-Shop, ein Fernsehsaal und eine Agentur „zur Verbringung einer kurzen guten Zeit“. So sieht eine Stadt aus, wenn sie als Kollektivprodukt von bildenden Künstlern, Architekten und Theatermachern entsteht. Die Stadt als Bühne zu nutzen ist ein Programmpunkt in der Neuausrichtung von Kampnagel unter der neuen Leiterin Amelie Deuflhard – genauso, wie die Stadt ins Theater zu holen. Zum Eröffnungsfest ihrer ersten Spielzeit waren beide Ziele schon einmal symbolisch erreicht: Im riesigen Foyer der Kampnagel-Halle war eine richtige kleine Stadt aufgebaut, durch die man hindurchspazieren konnte. Mit weißen Markierungsstreifen auf dem Boden à la „Dogville“, mit einem „Walk of Fame“, mit falschem Applaus und einem echten Star-Friseur, der schon bei Peaches oder Stereo Total zur Schere gegriffen hat und nun für zehn Euro seinen Dienst anbietet: Haarschnitte für den Neuanfang.
Am Tag eins der ersten Spielzeit kommt Kampnagels Foyer im neuen Look daher. Amelie Deuflhard sieht zum Glück aus wie immer und spricht mit unverkennbarer Energie darüber, wie das gehen kann: Theater und Stadt in ein kreatives Spannungsverhältnis zu bringen, einen radikalen Neuanfang an einem Theaterort zu schaffen und sich gleichzeitig spielerisch auf dessen Geschichte zu beziehen. „Jeder findet Kampnagel gut, aber alle sagen, dass sie schon lange nicht mehr da waren.“ Solche Sätze habe Deuflhard in den anderthalb Jahren Vorbereitungszeit oft gehört. In Anlehnung daran ist das erste Wochenende deshalb mit „Besetzungsorgie“ überschrieben.
Die Suggestion des Titels, Distanz und Nähe gleichzeitig zu wahren, funktionierte. Als Besucher fühlte man sich sofort willkommen auf dem ehemaligen Fabrikgelände, das in den 80er Jahren durch Besetzung vor dem Abriss gerettet und für die Kunst erschlossen wurde. Und dessen alternativer Gründungsmythos nicht vergessen ist, auch wenn er längst nicht mehr trägt. Als schwierigste Spielstätte der freien Szene gilt Kampnagel aber vor allem, weil es auch die größte ist.
Der Auftrag, freie, experimentierfreudige Kunst zu zeigen, beißt sich mit den Kampnagel-Hallen, von denen allein die große je nach Bestuhlung 800 bis 1.200 Zuschauern Platz bietet, der nur mit einem besonderen Programm zu füllen ist. Doch auch dieser Raum wurde zum Auftakt erfolgreich eingenommen. Genau dort blieben bis kurz vor Mitternacht hunderte von Besuchern beim „Orchester-Karaoke“ kleben. Lieder von Madonna bis zu den Beatles mit großer Orchesterbegleitung, aber szenischer Clubatmosphäre nachzusingen wirkte hier wie ein todsicheres Format. Überraschenderweise eine echte Neuerfindung, die von einem angereisten Stadttheater-Intendanten sofort fürs eigene Haus angefragt wurde.
Platz gibt es auf Kampnagel genügend, Fördergelder dagegen nur zu einem Bruchteil dessen, was etwa in Berlin beantragt werden kann. Im Tanz wie in der freien Szene hat die unvernünftige Förderpolitik das Hinterland zerstört. Wer konnte, wanderte nach Berlin ab. Von dort kommt nun Deuflhard, die zuletzt die Sophiensaele leitete und zusammen mit Matthias Lilienthal die künstlerische Zwischennutzung des Palasts der Republik verantwortete. Auch auf Kampnagel geht es darum, Raum zu transformieren. Dass Deuflhard neue Formen und Inhalte bereits woanders erprobt hat, bedeutet auch die „Möglichkeit, noch einmal neu draufzuschauen, zu sortieren und weiterzuentwickeln“, gibt sie als Ausblick auf die knapp 20 Eigen- und Koproduktionen, die in den nächsten Monaten folgen werden.
Zum Auftakt erst einmal Gastspiele aus dem von Deuflhard, András Siebold und Nadine Jessen kuratierten Programm, das sich mit dem Sinn des Erzählens auf der Bühne beschäftigt. Genau der ging dem amerikanisch-palästinensischen Tänzer Tarek Halaby verloren, als er einen Soloabend über seine Herkunft erarbeiten wollte. Jetzt steht er auf der Bühne und erzählt: von seinem Nachnamen, der ihn mit dem jordanischen Königshaus verbindet. Von der amerikanischen Einwanderungsbehörde, die am Flughafen seine Staatsbürgerschaft anzweifelt. Halabys Versuch, den Zuschauern mit Scheinwerfern und Megaphon Angst einzujagen, scheitert daran, dass er ein freundlicher nice guy ist, dem der Nahostkonflikt fremd ist. Als gebürtiger Palästinenser hat er gerade deshalb kein richtiges Bild von sich selbst, und aus diesem Defizit entsteht ein berührender Abend.
Von einer ganz anderen Seite schaut der lettische Regisseur Alvis Hermanis in „Sonja“ in die Privatsphäre. Zwei Einbrecher steigen in eine vollgestellte alte Wohnung ein, öffnen Schränke und durchwühlen Wäscheschränke. Doch in einer märchenhafte Wendung schnappen nicht die Einbrecher die Beute, sondern die Dinge scheinen von ihnen Besitz zu nehmen. Während der eine Einbrecher über sich selbst staunt und sich in eine Bewohnerin Leningrads der 30er-Jahre verwandelt, Rouge auflegt, in ein Damenkleid schlüpft, beginnt der zweite Einbrecher, Sonjas Geschichte zu erzählen. Am Ende erwachen beide wie aus einem schönen Traum, packen ihr Diebesgut zusammen und machen sich davon.
X-beliebige russische Diebe waren das, aber symbolisch steckt in ihnen auch die Figur des Regisseurs selbst, der in eine Geschichte wie Sonja einbricht, sich darin umschaut und reiche Beute macht. Den Blick ins Private hält Hermanis immer für einen Einbruch in ein Leben, aber er selbst macht daraus keinen gewaltsamen Akt. Dass in Hermanis’ Inszenierung eine alte russische Wohnung nachgebaut ist, wirkte wie eine schöne zusätzliche Verbindung von Stadt, Theater und Wohnen. SIMONE KAEMPF