: Im Knast gibt es kein Entkommen
Experten kritisieren die Zustände in der Jugendstrafanstalt in Plötzensee. Nicht Drogen, sondern Gewalt sei das größte Problem. Opfer werden vor Tätern nicht ausreichend geschützt
VON PLUTONIA PLARRE
Die Jugendstrafanstalt in Plötzensee sorgt weiter für Aufsehen: Der Knast sei so überfüllt, dass ein erzieherisches Einwirken auf die Gefangenen kaum noch möglich sei, sagte Jugendrichter Günter Räcke gestern bei einer Anhörung im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses. „Die Drogen sind das kleinste Problem.“ Gewalt unter den Insassen sei alltäglich. Schwächere Gefangene würden von Stärkeren dominiert. Ein Insasse habe seine Ausbildung „hingeschmissen“, weil er sich nicht länger als Drogenkurier missbrauchen lassen wollte.
Ende März hatte der Jugendrichter in einem taz-Interview fast wortwörtlich das Gleiche gesagt. Die öffentliche Reaktion war damals gleich null. Kein Oppositionspolitiker schrie auf, keine Zeitung empörte sich. Das Einzige, das geschah, war, dass Räcke von einer Justizsprecherin einen Anruf bekam: Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) sei über das Interview gar nicht amüsiert, wurde Räcke für seine Offenheit gerüffelt.
Anders gestern: Zu der Sondersitzung über die Zustände im Jugendknast waren Funk und Fernsehen aufgefahren. Die Politiker waren ganz Ohr. Die von der Opposition zum Justizskandal hochgejazzten Päckchenwürfe über die Knastmauern haben es möglich gemacht. Nur deshalb hatten CDU, FDP und Grüne die Sitzung gefordert.
Justizsenatorin Gisela von der Aue wies am Anfang der Sitzung Darstellungen über eine gravierende Überbelegung der Jugendstrafanstalt als falsch zurück. Im März 2007 habe die Überbelegung zwar bei 130 Prozent gelegen, mittlerweile sei sie aber auf 115 Prozent zurückgegangen. Das Gefängnis verfügt insgesamt über 534 Plätze; zurzeit sitzen dort 610 Gefangene ein.
Zur Personalsituation sagte die Senatorin, dass es im Jugendknast gegenüber 424 Bediensteten im Jahr 1995 im Jahr 2008 immer noch 412 Bedienstete geben werde. Von der Aue warnte davor, die Geschehnisse im Gefängnis „zur Skandalisierung“ zu nutzen. Ihr sei keine Zunahme von Gewalttaten unter den Häftlingen bekannt. Die Zahl der angezeigten Körperverletzungen sei von 2005 mit 48 Fällen auf 30 im vergangenen Jahr zurückgegangen. 2007 seien bislang 14 Fälle bekannt geworden. Vorwürfe, das Vollzugspersonal schaue bei Gewalt in der Jugendstrafanstalt weg, nannte von der Aue „ehrabschneidend“.
Was Jugendrichter Räcke und die gleichfalls als Expertin geladene Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, Vera Junker, vortrugen, hörte sich anders an. Junker, die ihr Wissen von Staatsanwälten, Verteidigern und Justizbediensteten bezieht, berichtete von Täter-und-Opfer-Strukturen im Jugendknast. Das typische Opfer sei meist deutscher Herkunft und allein. Die Täter hätten meistens einen Migrationshintergrund und würden in Gruppen agieren. Um den Schutz der Opfer sei es im Knast so schlecht bestellt, dass diese aus Angst vor weiteren Repressalien kaum zu einer Aussage bereit seien. Sie könne dies aber nicht mit Zahlen belegen, sagte Junker. Es handele sich um „Eindrücke, die Kollegen geschildert“ hätten. Es bestehe aber kein Grund, daran zu zweifeln. „Staatsanwälte und Richter neigen nicht zur Übertreibung.“ Das erste Ziel müsse sein, die Gefangenen besser zu schützen, forderte die Staatsanwältin. Die Rädelsführer müssten in andere Haftanstalten verlegt werden. Ein Mitarbeiter des Jugendknasts bestätigte, dass es eher die Opfer seien, die unter Verschluss kämen. Anders seien sie vor den Tätern nicht zu schützen.
Der als Experte geladene Vorsitzende des Berliner Vollzugsbeeirats, Olaf Heischel, sagte: Gemessen am Bundesstandard könne sich das Berliner Jugendgefängnis durchaus sehen lassen. „Aber was den erzieherischen Auftrag angeht, ist die Strafanstalt in relativ schlechtem Zustand.“