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Archiv-Artikel

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KUNST Die Ausstellung „Das Wunder in der Schuheinlegesohle“ in der Sammlung Scharf-Gerstenberg zeigt 120 Werke aus der legendären Sammlung Prinzhorn, die der Psychiater Hans Prinzhorn um 1920 sammelte

Die Prinzhorn-Sammlung ist legendär, nicht zuletzt als Anschauungsmaterial in einem Diskurs, der kritisch hinterfragen will, wie Normen entstehen und durchgesetzt werden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Vergiftet zu werden gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den häufig auftretenden Ängsten der Frauen und Männer, die in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden waren. Man erfährt das aus den biografischen Notizen am Ende des schönen Katalogs „Werke aus der Sammlung Prinzhorn – das Wunder in der Schuheinlegesohle“, der eine Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg begleitet. Warum grade dieser Wahn so verbreitet war, man würde gerne mehr darüber wissen, doch wie Krankheitsbilder entstehen, ist nicht Thema in dieser Auswahl aus der legendären Sammlung Prinzhorn.

Auch der Gärtner Jakob Mohr, mehrfach in die Heidelberger Psychiatrie und ins Zuchthaus eingewiesen, unter anderem wegen Diebstahl, Meineid, Körperverletzung und Urkundenfälschung, klagte über die Angst vor Vergiftung. Die taucht zwar nicht in den ausgestellten Bildmotiven auf, wohl aber die Angst vor einem anderen Eingriff in den Körper, der Manipulation durch Strahlen.

Jakob Mohr, der zur Abwehr von Fernhypnose nach einem Hemd aus Stanniol verlangte, zeichnete den Angriff von Strahlen, die eine Figur aus einem eckigen Apparat auf eine zweite Figur abschießt, die zudem in eine Vermessungsanlage eingespannt ist. Mit ihren vibrierenden Linien und den Pfeilen, die die Strahlen visualisieren, erinnert die Zeichnung von 1910 an die Fantasie von Dr. Frankenstein, der mit elektrischen Blitzen einen künstlichen Körper zu beleben versucht. Radioapparate waren zu der Zeit noch nicht erfunden, die ersten „Strahlenapparate“ wurden wenig später im Ersten Weltkrieg eingesetzt, wie ein Text in der Ausstellung informiert. Mohrs Zeichnung ist also ebenso visionär wie fantastisch, beängstigend und auch skurril, dockt sie doch auch an das Schaurige und Unheimliche in der Literatur und Kunst an.

Schaut man heute mit einem Abstand von beinahe 90 Jahren die Auswahl der 120 Bildnisse an, die der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn um 1920 aus verschiedenen Anstalten sammelte, so springt ihre ästhetische Vielfalt ins Auge. Oft meint man, gestalterische Ideen zu sehen, die erst Jahrzehnte später in einem ganz anderen Kontext als Konzepte wiederauftauchen.

Die zwei verschieden farbigen Augen, die August Natterer als „Meine Augen zur Zeit der Erscheinungen“ allein auf ein Blatt Papier stellte, fixieren den Betrachter, als wollten sie einen Diskurs über das Regime der Blicke, wer wen beobachtet, wer Objekt und wer Subjekt der Anschauung ist, aufmachen. Die Holzskulpturen von Karl Genzel, einem zur Trunksucht neigenden Maurer, erfüllen alle Kriterien der von den Expressionisten imaginierten „ursprünglichen“ Ausdruckskraft und haben zudem noch, wie seine Kopffüßler oder ein „Nilpferd mit zwei Köpfen auf Stiefelknecht“, einen besonderen Witz.

Die Kalender und Tabellen, die Josef Grebing anlegte, lassen sich in ihrem Wunsch nach Ordnung, nach Erfassen der Zeit und Rhythmisierung leicht neben spätere Arbeiten der Konzeptkunst und des Minimalismus stellen. Und in den Geldscheinen, die Else Blankenhorn auf Papier tuschte und mit vielen weiblichen Flügelwesen versah, könnte man glatt einen feministischen Angriff auf männliche Deutungshoheit im Bereich der Ökonomie vermuten.

Solche Gedanken sind zum Teil sicher Spinnereien, nachträgliche Projektionen, die den Entstehungskontext vernachlässigen – aber sie verdeutlichen, warum die Werke aus der Sammlung Prinzhorn nach wie vor visuell so attraktiv sind und mit so großem Staunen betrachtet werden können. Als Kunstwerke sind sie aufregend, von einem oft nicht zu entschlüsselnden narrativen Reichtum; manchmal auch voller Heimlichkeiten und sexueller Anspielungen, die den Rahmen des moralisch Zulässigen überschreiten, manchmal voller rührseliger Zitate, die in die populäre Welt von Zeitschriften oder Märchen hinüberweisen.

Die Prinzhorn-Sammlung ist legendär, nicht zuletzt als Anschauungsmaterial in einem Diskurs, der kritisch hinterfragen will, wie Normen entstehen und durchgesetzt werden. Thema der Ausstellung ist das nicht. Auffällig ist dennoch, dass es in den künstlerischen Werken beides gibt, die Grenzüberschreitung und die Suche nach Anpassung an die repräsentativen Normen, die sich in der Vorliebe für Uniformen oder etwa der Emblematik von Urkunden niederschlagen.

Im Katalog erfährt man gelegentlich, dass von einigen der Anstaltsinsassen die Sammlung ihrer Werke durch den Heidelberger Psychiater als Diebstahl empfunden wurde und ins System ihrer Verfolgungsvorstellungen passte. Sie hatten keine Verfügungsgewalt über ihre Kunst. Wie sehr sie unter ihrem Anstaltsleben gelitten haben, kann man oft nur vermuten. Umso mehr aber freut man sich über den starken autonomen Gestus ihrer Bildwelten, die möglicherweise einen Zufluchtsort boten.

■ „Das Wunder in der Schuheinlegesohle“ in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, bis 6. April 2015. Der Katalog dazu ist erschienen im Verbrecherverlag, 29,80 Euro