Verglühende Projektionsflächen

FILMFESTIVAL In Rotterdam kommt der iPlayer auf die große Leinwand, und auch sonst wird nach Kräften experimentiert, um herauszufinden, was Kino heute alles umfasst

Vier junge Leute fahren mit einem Geländewagen durchs peruanische Hochland. Mit dabei haben sie einen Beamer, eine aufblasbare Leinwand und den Film von Wendy, der in Lima nur eine Woche lang in zehn Sälen lief und insgesamt rund 3.500 Zuschauer erreichte. Nun wollen die Filmemacherin und ihre Begleiter ihr Werk selbst unters Volk bringen, bei freiem Eintritt auf öffentlichen Plätzen zeigen. Aber der Plan geht nicht auf: Das Spektakel des Leinwandaufblasens zieht mehr Leute an als der Film selbst.

Joanna Lombardis zweiter Spielfilm, „Solos/Alone“, lieferte damit ein schönes Bild für ein Problem des heutigen Kinos, das auch Filmfestivals zwangsläufig beschäftigt. In Rotterdam stellt man Bewegtbilder natürlich primär noch einem im Kino versammelten Publikum vor. Aber man bietet Filmschaffenden neuerdings auch an, ihre fürs Festival selektierten Arbeiten über das Video-on-demand-Label Tiger Release zu vertreiben.

Nicht nur bei solchen Initiativen fungiert der niederländische Riesenfestivaltanker immer noch wie ein Eisbrecher. Wie man ein Filmfestival in Zeiten des galoppierenden Wandels von Medien und Öffentlichkeiten lebendig hält, dafür war Rotterdam schon immer Gradmesser: „Exploding Cinema“ hieß eine Reihe, die in den 1990ern den traditionellen Kinobegriff und Kinobetrieb erweiterte.

Damals wurden Musikvideos und Pixelkunst einbezogen, in diesem Jahr ist das Logo des Festivals mit einem grafischen Play-Button überschrieben, wie man ihn vom Online-Streamen kennt. Passend dazu wird abends bei der Reihe „Mind the Gap“ eine ganze Leinwand abgefackelt: „Black Smoking Mirror“ heißt die Performance von Martijn van Boven und Gert-Jan Prins. Die beiden traktieren eine in Cinemascopeformat aufgespannte Oberfläche so lange mit bunt tanzendem Laser, bis nicht wie einst der Filmstreifen, sondern die Projektionsfläche selbst (vorsorglich aus Stahlwolle) brutzelt, aufflammt und verglüht. Auch so geht ein einzigartiges Lichtspielerlebnis.

Vielfalt der Formen

„Film“ zeigte sich in diesem 44. Festivaljahrgang – im Übrigen der letzte, den Rutger Wolfson als künstlerischer Leiter verantwortet – auch sonst in unterschiedlichsten Formen: Der US-Indie-Vielarbeiter Nathan Silver etwa hat für sein in den 1990ern in einer leicht dysfunktionalen Selbsthilfekommune angesiedeltes Impro-Drama „Stinking Heaven“ ein altes Videoformat wiederbelebt. Sein Kameramann Adam Ginsberg wiederum setzte auch Britni Wests Debüt „Tired Moonlight“ auf flirrendem, verwaschenem 16-mm-Material ins Bild. Und Amanda Rose Wilder machte ihre Dokumentarfilmaufnahmen auf MiniDV – aber nicht nur, weil sie sich für Schwarz-Weiß entschieden hat, wirkt ihr bemerkenswertes Debüt „Approaching the Elephant“ wie Direct Cinema aus den Sixties.

Wilder begleitet das erste Jahr der Teddy McArdle Free School in New Jersey. Sie ist dabei, wenn Kinder und Erwachsene, die gemeinsam diese Schule bilden, sich ihre Regeln geben. Sie sieht und hört zu, wenn sie beginnen, Konflikte zu verhandeln und zu lösen. Und ebenso, wenn solche Meetings harsch oder auch verzweifelt an Grenzen stoßen. Wilder bleibt auf Augenhöhe, sie enthält sich einer Parteinahme und schildert doch nichts weniger als die Komplexität eines großen Menschheitsprojekts: die Herstellung eines von Respekt getragenen, friedlichen Miteinanders, einer Demokratie auf der Ebene eines Mikrokosmos.

Der britische Journalist Adam Curtis bedient sich eines anderen Zugangs und hat einen sehr viel größeren Zusammenhang im Blick: „Bitter Lake“ ist der Titel seiner Montage aus vielfältigstem BBC-Archivmaterial, die um Afghanistan als geopolitischem Brennpunkt kreist. Der Titel bezieht sich auf ein historisches Treffen von US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem saudischen König Abd al-Aziz, das 1945 am Great Bitter Lake (Suezkanal) stattfand. Aber das ist nur eines von unendlich vielen Puzzlestücken, die Curtis zu einer Analyse zusammenfügt, die nur scheinbar bei einem Staudammprojekt in Südafghanistan 1946 anfängt und mit dem Terror des IS heute aufhört.

Produziert hat Curtis den 135 Minuten langen Videoessay fürs BBC-Online-Tool iPlayer – die Uraufführung im Kino erfolgte nur ausnahmsweise. Umgekehrt gibt es Filme, die ihre Wirkung am besten auf der großen Leinwand entfalten: Christoph Hochhäuslers „Die Lügen der Sieger“ zum Beispiel, ein mit ausladenden Kamerabewegungen souverän hingestellter Politthriller aus der deutschen Gegenwart, in dem sich ein ambitionierter Magazinjournalist (Florian David Fitz) im Netz einer Intrige verfängt.

Oder J. C. Chandors Wirtschaftskrimi „A Most Violent Year“: Oscar Isaac und Jessica Chastain kämpfen darin 1981 in New York um Erhalt und Ausbau ihrer Heizölfirma – und um die Frage, wie gegen gewalttätige Übergriffe der mafiosen Konkurrenz vorzugehen sei. J. C. Chandor gelingt der Entwurf eines „power couple“, das für Überraschungen gut ist und schon einen Vorschein auf die „Reaganomics“, die Wirtschaftspolitik unter Ronald Reagon, liefert.

ISABELLA REICHER