: Es hat sich ausgespitzelt
Das örtliche Verwaltungsgericht meldet schwere Bedenken gegen die Observierung eines Göttinger Atomkraftgegners an. Der Physikstudent war zwei Wochen lang auf Schritt und Tritt von der Polizei verfolgt worden. Die will nun alle Daten löschen
Die Göttinger Anti-Atom-Bewegung steht seit Jahrzehnten im Fokus polizeilichen Interesses. Schon 1977 schleuste das Landeskriminalamt zwei Beamte als Spitzel in den Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie ein. Über Monate beteiligten sich die beiden Polizisten an Beratungen und Aktionen der Initiative. Mehrmals versuchten sie zu einem militanteren Vorgehen anzustiften. In den vergangenen Jahren werden die öffentlichen Treffen des Anti-Atom-Plenums immer wieder von Zivilbeamten beobachtet, berichten die AKW-Gegner. 2001 flog ein LKA-Beamter auf, der ein Jahr lang unter falscher Identität an Versammlungen teilgenommen hatte. Im vergangenen Jahr scheitere ein Versuch des Verfassungsschutzes, einen Informanten zur Bespitzelung der örtlichen Anti-Atom-Szene anzuwerben. Selbst die nicht-öffentliche Erörterung vor dem Verwaltungsgericht am Dienstag stand unter Beobachtung: Augenzeugen zählten bis zu acht Polizisten. RP
VON REIMAR PAUL
Die massive Bespitzelung des Göttinger Atomgegners Daniel H. durch die Polizei vor drei Jahren war rechtswidrig. Nach einem Erörterungstermin vor dem örtlichen Verwaltungsgericht am Dienstag (AZ 1 A 220/05) hob die Göttinger Polizeidirektion ihre aus dem Jahr 2004 datierte Anordnung zur Observation des heute 27-Jährigen auf. Die Polizei sicherte zu, die bei der Überwachung gesammelten Daten des Umweltschützers „physikalisch zu löschen und zu vernichten“.
Im Vorfeld des Castor-Transportes nach Gorleben im November 2004 hatten Beamte des niedersächsischen Landeskriminalamtes den Physikstudenten H. zwei Wochen lang auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie hörten mehr als 80 Telefongespräche von ihm und seinen Mitbewohnern ab, machten Videoaufnahmen, überwachten Kneipen- und private Kontakte und verfolgten H. einmal sogar bis auf die Uni-Toilette. Am Auto eines Bekannten brachten die Fahnder einen Peilsender an. „Das klingt alles nach einem schlechten Bond-Film in Niedersachsen“, urteilten die Landtags-Grünen nach Bekanntwerden der Observation.
Zur Begründung der Maßnahme hieß es seitens der Polizei, H. habe als Mitglied des Göttinger Anti-Atom-Plenums zu Blockaden gegen den Atommülltransport aufgerufen. Die Gestaltung eines Plakates, das zu einer Anti-Atom-Party einlud, wurde ihm ebenfalls zugeschrieben. Außerdem sei H. ein Jahr zuvor im so genannten „Regenschirm“-Prozess angeklagt gewesen – 2003 war ein Castorzug nahe Göttingen durch eine „Barrikade“ aus Schirmen gerauscht, das daraufhin eingeleitete Strafverfahren wurde allerdings eingestellt.
Aus Sicht der Polizei war die Bespitzelung erfolgreich. Durch die Überwachung und den Peilsender sei eine mögliche Straftat verhindert worden. Ein mobiles Einsatzkommando habe Daniel H. sowie eine Begleiterin in der Nacht des Castortransportes nach der Ortung des Fahrzeugs in einem Wald bei Bad Hersfeld in Hessen festgenommen. Es sei zu vermuten gewesen, dass die Atomgegner das Fahrzeug auf die Schienen schieben wollten, um den Zug zu stoppen. Eine Durchsuchung der Festgenommen und ihres Autos erbrachte damals allerdings keine Erkenntnisse für eine Straftat.
Als vermeintliche Rechtsgrundlage für die Bespitzelung von Daniel H. diente der Polizeidirektion das 2003 novellierte niedersächsische Polizeigesetz (SOG). Lediglich das Anzapfen des Telefons in H.s Wohngemeinschaft ließ sich die Polizei von einem Amtsrichter genehmigen. Dagegen klagte H. bereits 2005 mit Erfolg; das Bundesverfassungsgericht erklärte den zugrunde liegenden Paragrafen 33 – die präventive Telekommunikationsüberwachung ohne konkreten Tatverdacht – des SOG für rechtswidrig. Wenig später gab auch das Landgericht einer Beschwerde von Daniel H. statt.
Die nun vor dem Verwaltungsgericht verhandelte Klage des Studenten richtete sich gegen zwei weitere Passagen des Polizeigesetzes. Paragraf 34 ermöglicht die verdachtsunabhängige Datenerhebung durch längerfristige Observation. Im Juristensprech sind davon potenziell alle Personen betroffen, „bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden“. Paragraf 35 regelt, sehr vage, die Datenerhebung durch technische Mittel wie Video- und Tonbandaufnahmen. Diese Maßnahme darf auch durchgeführt werden, „wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden“.
In der nicht öffentlichen Anhörung am Dienstag ließ der Vorsitzende Richter nach Angaben von Prozessbeteiligten erkennen, dass er die Anordnung der Polizei für rechtswidrig hält. Es hätten im konkreten Fall keinerlei rechtliche Voraussetzungen für die Anwendung der Paragrafen 34 und 35 vorgelegen. Laut dem der taz vorliegenden Verhandlungsprotokoll meldete der Richter auch „erhebliche Bedenken“ an, „soweit es die Prognose bezüglich der Begehung einer erheblichen Straftat angehe“. In einer Pressemitteilung konzentriert sich das Gericht auf die fehlende schriftliche Begründung für die Polizeiaktion. Die Polizei hatte auf der Anordnung vom September 2004 lediglich handschriftlich vermerkt, dass der Einsatz hiermit angeordnet sei.
„Das Gericht ist uns in allen Punkten zu 100 Prozent gefolgt“, bilanziert Daniel H.s Rechtsanwalt Johannes Hentschel. Er wertet die Verhandlung als „ganz wichtiges Verfahren mit Signalcharakter“. Die Polizei könne sich künftig nicht so leichtfertig auf das SOG stützen.
Das Klageverfahren wurde formell eingestellt. Ein Urteil werde in der Sache deshalb auch nicht ergehen, erklärte Gerichtssprecher Dieter Wenderoth. Für die Polizei ist der Fall möglicherweise aber noch nicht ausgestanden. „Wir prüfen jetzt eine Schmerzensgeldforderung“, so Anwalt Hentschel zur taz. Auch eine grundsätzliche Überprüfung der Paragrafen 34 und 35 des niedersächsischen Polizeigesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht stellt Hentschel in Aussicht. „Das Verwaltungsgericht hat ja offen gelassen, was es von der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften hält.“ Der Anwalt bezweifelt die Gesetzgebungskompetenz des Landes in dieser Frage.