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Archiv-Artikel

Neue Kochkunst

Steirischer Herbst: „Tempo 76“, eine Choreografie von Mathilde Monnier, gibt dem Unisono von Tanz und Musik von György Ligeti eine neue Lesart

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Man glaubt fast, die Gelenke knacken zu hören und das Reiben des Stoffes der Hemden und Hosen, wenn Mathilde Monniers neues Tanzstück „Tempo 76“ beginnt: So still ist es und so aufmerksam wird man bei den ersten schmalen Bewegungen der Tänzer auf dem grünen Rasen, der schon das ganze Bühnenbild ausmacht. Sie stehen, sie zupfen an ihren Krawatten, sie wechseln den Fuß, setzen sich, strecken die Beine, die Arme, legen sich, rollen, erst zwei, drei, dann fünf, sechs, am Ende sind es elf. Man denkt aber, es wären viel mehr Frauen und Männer auf der Bühne, und als verwirrende Vielfalt von Menschen beobachtet man sie eher denn als Tänzer. Dabei führen sie alle diese kleinen Bewegungen synchron aus.

Das Unisono im Tanz, das den Körper des Einzelnen so gern überführt in ein Ornament, ist das Thema des neuen Tanzstücks der französischen Choreografin. Bis in den zeitgenössischen Tanz hinein ist die Synchronisierung der Körper ein meist treffsicheres Instrument der Generierung von Aufmerksamkeit, ein mitreißender Sturm der Bewegung. Weil er aber auch das Mittel von Paraden, Sportfesten, Revuen und Entertainment ist, gehen viele der modernen Choreografen vorsichtig und sparsam damit um. Mathilde Monnier hat nun mit dem Unisono ein ganzes Stück gebaut, das der Gleichzeitigkeit neue Interpretationen erschließt. In ihren Bildern verschwinden die Einzelnen nicht und die Gemeinsamkeit scheint immer eher ein fragiles und konzentriertes Gebilde denn eine mechanisch mitreißende Welle.

Die Choreografin, die seit 1994 das Centre Choreographique National de Montpellier leitet, hat sich noch in keinem ihrer Stücke wiederholt. Der Anspruch, dabei auch die Geschichte und Bedeutung von Bewegung und choreografischer Komposition zu erforschen, hat einige ihrer Arbeiten spröde und konzeptlastig werden lassen. Mit „Tempo 76“ aber ist ihr ein außerordentlich leichtes und entgegenkommendes Stück gelungen. Nach der Uraufführung in Montpellier war es zum ersten Mal als Gastspiel in Graz zu sehen, als Teil des Steirischen Herbstes, bevor es auf Tournee durch die Städte Brasiliens und Europas geht. Dass Monnier dabei Klavier-Musiken des ungarischen Komponisten György Ligeti benutzt, war für Graz eine schöne Koinzidenz, hält sich das Festival Steirischer Herbst, das diesmal sein 40. Jubiläum feiert, doch zugute, diesen Komponisten in seinen Anfängen gefördert zu haben.

Das Bewegungsrepertoire von „Tempo 76“ beginnt im Alltäglichen und quert sehr unterschiedliche Ebenen von Ausdruck, Darstellung und Form. Auffallend ist, wie oft Monnier gerade diesmal mit dem Spektrum von individuellen Gefühlen arbeitet, obwohl das dem Charakter des Unisono widerspricht. Zum Beispiel brechen die Tänzer ab und an zur gleichen Zeit in Lachen oder Weinen aus oder fürchten sich ganz fürchterlich, ohne dass dies wie im Tanztheater durch eine narrative Episode oder ein Thema getragen wäre. Manchmal führen sie zwar unterschiedliche Bewegungen aus, aber in genau der gleichen Geschwindigkeit, und weil alle vom Kochen handeln, vom Schneiden, Hacken, Rühren, Kneten, hat dies schnell etwas Erheiterndes – wie eine synchron kochende Stadt.

In anderen Sequenzen nehmen sie die Stimme zur Hilfe und belegen die abstrakten Bewegungen mit lautmalerischen Ausrufen, die sich wie Argumente in einem Streit aneinanderfügen. Und doch durchschaubar werden als eine Hilfsstruktur, um sich den Tanz zu merken und zu wiederholen.

Denn um sich in der gleichen Geschwindigkeit zu bewegen, brauchen Tänzer die Teilhabe an einer gemeinsamen Zeit, die meist über das Zählen der Takte in der Musik hergestellt wird. Die Kompositionen von Ligeti aber unterlaufen diese Struktur oft, nämlich dort, wo sie den ununterbrochenen Klangraum anstreben. Eines der Mittel, die Geschwindigkeiten und Körperzeiten trotzdem nicht auseinanderfallen zu lassen, ist natürlich das schlichte Kopieren von Bewegung: Aber so schlicht ist das gar nicht. Denn kopiert werden in „Tempo 76“ Solos einzelner Tänzer, die die Gruppe auf Monitoren in den Seitengassen der Bühne sieht. Das ist in gewisser Weise ein Tanz-Karaoke, und so, wie im Karaoke sonst die Augen des Sängers an den Textzeilen kleben, müssen hier alle in die Kulissen starren. Das wirkt wie das Gegenteil von authentischem Ausdruck, und seltsamerweise erlebt man das als Befreiung. Denn es wird etwas sichtbar, was der Tanz sonst selten ausspricht, dass er eben auch Wiederholung und Nachahmung ist.