: Die Hälfte des Lebens
Als er fünf Jahre alt ist, so schreibt Saul Friedländer in seiner Autobiographie, schleicht er „auf Zehenspitzen den Flur entlang und presst das Auge an das Schlüsselloch des Wohnzimmers“. Er will unbedingt wissen, dass der Vater da ist, dass er dort im Wohnzimmer sitzt, unter der Leselampe, wie jeden Abend. Dieses Bild ist eine Deckerinnerung, Chiffre für die panische Angst des Kindes, „alleingelassen zu werden.“
Diese Szene spielt 1937 in Prag. Friedländer ist Sohn tschechischer Juden. 1939 flieht die Familie vor den Nazis nach Paris, von dort in das Vichy-Frankreich. Seine Eltern werden in Auschwitz ermordet. Saul Friedländer überlebt durch Glück und Zufall als Schüler in einem katholischen Internat. Die Erinnerung an die Kindheit in Prag, schreibt Friedländer, „bewahrt die intensive Klarheit eines glücklichen Morgengrauens“. Diese Kindheitserinnerung ist ein Code für das Unzerstörbare, für jenes Urvertrauen, das Friedländer vielleicht befähigte, den Verlust der Eltern und Todesängste zu überstehen. In seiner 1977 verfassten und nun wieder aufgelegten Biographie „Wenn die Erinnerung kommt“ schreibt Friedländer weiter: „Erstaunlich, wie das Gedächtnis funktioniert. Das Unerträgliche wird ausgelöscht, oder es versinkt vielmehr, das Alltägliche tritt in den Vordergrund.“ Auch das Vergessen kann retten.
Wer über Erinnerungen an vergangene Schrecken schreibt, ist von Kitsch und Routine bedroht. Kitsch entsteht durch umstandslose Vergegenwärtigung, indem zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein Gleichheitszeichen gesetzt wird. Ein Dramatisierungseffekt. Routine entsteht, wenn man eine Geschichte so oft wiederholt, dass man sie erzählen kann wie ein Unglück, das jemand anderem passiert ist. Mit Routine macht man sich den Schrecken fremd.
Friedländers Kunst besteht darin, die Nähe mittels Dramatisierung ebenso zu meiden wie die Ferne durch Routine. Er macht das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen selbst zum Thema, schafft ein Geflecht von Erzählung und Reflexion und verschachtelt die Zeitebenen. Das erzählerische Kraftzentrum ist die Schilderung der Flucht, der Kinderheime und der Zeit im Internat in Montluçon, wo Paul-Henri, so sein Name dort, mit zwölf Jahren zum glühenden Katholiken wurde. Als die Résistance 1944 den Ort von den Deutschen befreit, jubelt die Bevölkerung. Doch Paul-Henri kommt diese Freude „monströs und unanständig“ vor. Im Internat sorgt man sich vor allem um den verehrten katholischen General Pétain, den Kollaborateur mit den Nazis.
Friedländer beschreibt den Alltag im Internat, die Farben, Gerüche, Gesten und Details. Gerade weil diese Prosa scheinbar auf nichts zielt, weil sie keine Botschaft verbreiten will, ist sie so anrührend. Friedländer hat dieses Buch 1977 in Israel geschrieben. Er war 45 Jahre alt, in der Mitte des Lebens, älter als sein Vater damals, als er ihn zum letzten Mal sah. 1948 war Friedländer als enthusiastischer Zionist nach Israel gegangen. „Alles kam mir wie ein Wunder vor: die heimische Schokolade ebenso wie der jüdische Staat.“ 1977 sieht er das Land nüchterner, zweifelnd, ob Israel zum Frieden fähig ist. Jetzt ist das Morgen, das man gestern sah.
Es gibt nicht viele Bücher, die intellektuelle Reflexion und erzählerische Intensität, glänzenden Stil und intensive Wahrheitssuche verbinden. Friedländers Autobiographie gehört dazu. STEFAN REINECKE
Saul Friedländer, „Wenn die Erinnerung kommt“, C. H. Beck, 192 Seiten, 10,95 Euro