: Vater: unbekannt
Sie ist sechsundzwanzig, als sie die wahren Umstände ihrer Zeugung erfährt. Anonyme Samenspende. Nun klagt sie auf Schadenersatz
VON HEIKE HAARHOFF
Bald jeden Tag fällt ihr eine weitere Lüge auf. Ihre rötlichen Haare, angeblich genau wie die im Bart des Vaters. Eine vererbte Ähnlichkeit, wie die Mutter nicht müde wurde zu betonen. Alles Unsinn. Dass sie beide diesen Rotton haben, ist Zufall. Mit Genetik hat er nichts zu tun. Oder dass sie Einzelkind ist. Stimmt vermutlich auch nicht. Nach Lage der Dinge dürfte sie Halbgeschwister haben. Oder wenn sie Blut spenden geht und bei der Frage nach genetischen Vorerkrankungen innerhalb der Familie „keine“ ankreuzt. Weiß sie es denn mit Sicherheit? Natürlich nicht.
Seit einem Jahr lebt sie stattdessen mit anderen Gewissheiten. Der Mann, den sie zeit ihres Lebens für ihren Vater gehalten hat, ist nicht mit ihr verwandt. Und: Sie wird vermutlich nie erfahren, wer ihr genetischer Vater ist. „Manchmal denke ich, das bin doch nicht ich, das hat doch nichts mit mir zu tun.“
Sie wird klagen. Gegen die Universitätsklinik Essen, Abteilung Frauenheilkunde. Diese hat ihr mit einem „medizinischen Modellprojekt“ gewissermaßen das Leben gegeben und es zugleich verdorben. Alle Unterlagen über den Unbekannten, der einst seine Spermien zur Verfügung stellte, damit sie entstehen konnte, sind von der Klinik vernichtet worden. „Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gilt auch für mich“, sagt sie. Allein: Sie wird es nicht bekommen. Also soll es wenigstens Schadenersatz für sie geben. Notfalls, sagt sie, geht sie bis vor das Bundesverfassungsgericht.
Sie ist schließlich nicht vier oder fünf Jahre alt. In diesem Alter, so empfehlen es Adoptionsforscher, sollten Kinder, die von ihren Eltern adoptiert wurden, oder die, wie in ihrem Fall, mittels einer fremden Samenspende gezeugt wurden, über ihre Herkunft aufgeklärt werden. Andernfalls, so sieht es die Familientherapeutin Petra Thorn, die den deutschlandweit einzigen Ratgeber zur „Familiengründung mit Spendersamen“ verfasst hat, drohten Identitätsbrüche.
Sie aber ist siebenundzwanzig. „Meine Eltern wussten so viel über mich und haben es mir jahrzehntelang einfach nicht gesagt. Das ist auch so schlimm für mich, dieser mangelnde Respekt.“
Sechsundzwanzig Jahre wuchs sie in dem Glauben auf, dass sie die Tochter einer gebildeten, häufig mit sich selbst unzufriedenen Frau und eines beruflich erfolgreichen, manchmal distanziert wirkenden Mannes sei. Durchschnittseltern mit Durchschnittsmacken, die man im Großen und Ganzen aber liebenswert und vor allem vertrauenswürdig finden konnte. Seit einem Jahr gilt das nicht mehr. „Es ist, als wären die, die ich kannte, gestorben. Und dazu kommt das Gefühl, betrogen worden zu sein.“
Im Sommer 2006 beschließt die Mutter, ihr ihre tatsächliche Identität zu offenbaren. Zum Abendessen lädt sie den Ehemann ein, von dem sie seit ein paar Jahren getrennt lebt, und die Tochter. Ihre Beweggründe für die Wahl des Zeitpunkts behält sie für sich. Vielleicht denkt sie, die Tochter sei jetzt alt genug, mit einem so schweren Schlag umzugehen. Die Tochter ist gerade in der Endphase ihres Studiums.
Was folgt, gleicht mehr einer Mitteilung als einer Erklärung: Der Vater habe in der Jugend Hodenkrebs gehabt. Dadurch sei er unfruchtbar geworden. Sie, die Mutter, habe sich ein Familienleben ohne eigene Kinder aber nicht vorstellen können. Dann habe es dieses Angebot der Essener Frauenklinik gegeben. Ein anonymer Samenspender. Der Vater widerspricht nicht. Er muss seine Frau sehr geliebt haben damals. Es war vor allem ihr Kinderwunsch.
Die Ärzte beschreiben den Spender als „intelligent“ und „der höheren gesellschaftlichen Schicht angehörig“. Sowie als „relativ klein“. In den Augen der Mutter die perfekte Lösung: Sie will ein kluges, ein schönes Kind. Eines, das, anders als sie selbst, nicht unter überdurchschnittlicher Körpergröße zu leiden haben wird.
Sie wollte eine gute Mutter sein. Sie wollte nur das Beste für ihr Kind.
„Ich hab gezittert wie unter Schock, ich kam mir vor wie ein Rassehund.“
Die Daten des Spenders, erfährt die Tochter auf Nachfrage, seien übrigens 1989, zehn Jahre nach der Befruchtung, vernichtet worden. Die Chance, ihren genetischen Vater jemals zu ermitteln, geht damit gegen null. „Ich bin ein sehr rationaler Mensch“, sagt sie kühl.
Sonst sähe es jetzt in ihrem Leben vielleicht anders aus. Sonst hätte sie möglicherweise das Studium kurz vor Schluss einfach geschmissen. Sonst hätte sie nicht bloß den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Sondern auch den zu den Freunden, zu den Verwandten, zu den Protagonisten eines alten Lebens, das ihres nicht mehr ist. Obwohl sie, von außen betrachtet, immer noch die Gleiche ist: eine junge, lebensfrohe Frau mit realem Namen, Wohnort, Hobbys, Ehrgeiz und Berufsziel.
Sie will anonym bleiben. Sie will, dass ihr die Menschen unbefangen begegnen. Indem sie bestimmt, wem sie ihre Geschichte anvertraut. „Natürlich wünsche ich mir, meinen genetischen Vater doch noch zu finden. Name, Beruf, Foto, das wäre schon toll. Es ist ja nicht so, dass ich dann sagen würde, mein sozialer Vater ist nicht mehr mein Vater. Natürlich bleibt er mein Vater. Aber ich würde gern wissen, ob mein genetischer Vater mir ähnlich ist, ob ich mich ihm nahe fühle.“
Und wenn er sich ein bisschen Zeit für sie nähme, dann würde sie ihn auch fragen, was er sich gedacht hat damals, vor achtundzwanzig Jahren. Ob es ihm nie unheimlich wurde bei der Vorstellung, dass irgendwo ein Mensch mit seinen Genen herumläuft, den er nicht kennt und der ihn nicht kennt.
Sie möchte über das Wissen verfügen, das das Bundesverfassungsgericht bereits 1989 zum Persönlichkeitsrecht jedes Kindes erklärt hat: die Kenntnis seiner Abstammung. „Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit“, urteilte das Gericht damals, „sondern nimmt auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein.“
Was aber, wenn diese Kenntnis nicht erhältlich ist? Weil, wie in ihrem Fall, sämtliche Dokumente unwiederbringlich verschwunden sind?
„Man muss sich das vorstellen“, sagt sie, „als die Ärzte die Daten über meinen genetischen Vater vernichteten, war ich neun Jahre alt.“ Das hat ihr die Uniklinik Essen mitgeteilt. Im Übrigen lehnt sie jede Verantwortung ab.
Ab 1976 hatte die Frauenklinik junge Männer, einige von ihnen vermutlich Medizinstudenten, dafür gewinnen können, ihren Samen für ein – damals – außergewöhnliches Projekt zu spenden. Ehepaare, deren Kinderwunsch bislang unerfüllt geblieben war, weil der Ehemann unfruchtbar war, sollten Eltern werden können. Mit Hilfe des Samens eines Unbekannten, mit dem die Frau künstlich befruchtet wurde.
1980 wurde sie als eines dieser „Spenderkinder“ geboren. Deren Rechte und andere ethische Fragen interessierten damals nicht. Es gab keine Samenbanken, keine Richtlinien oder Standards. Es gab allein die Idee zweier Pioniere, damals Assistenzärzte in der Uniklinik Essen. Einer von ihnen heißt Thomas Katzorke, er ist heute Professor und leitet in Essen ein renommiertes Zentrum für Reproduktionsmedizin: „Bis 1970 galt die Behandlung mit Fremdsamen als standesunwürdig“, sagt er. Ihren Kinderwunsch zu offenbaren sei vielen Paaren peinlich gewesen: „Es waren die Eltern, die Anonymität wünschten.“
Katzorke hat ihr gerichtlich untersagen lassen, zu behaupten, er habe damals ihre Mutter behandelt. „Es kann sein, aber ich erinnere mich nicht.“ Er sieht die Ehre seines Berufsstands verletzt. „Man war damals nicht verpflichtet zur Aufzeichnung.“ Zehn Jahre nach erfolgreicher Insemination wurden sämtliche Daten vernichtet.
In ihrem Fall war das 1989. Das Jahr des Bundesverfassungsgerichtsurteils. „Spätestens da hätte die Uniklinik wissen müssen, dass man solche Unterlagen nicht wegschmeißen darf.“ Zwischen der Verkündung des Urteils und der Datenvernichtung lagen Monate.
Es macht sie fassungslos. Zu wissen, dass die Wurstigkeit Dritter schuld daran ist, dass sie nichts mehr erfahren kann über den Mann, der immerhin für die Hälfte ihres Erbguts verantwortlich ist. Je weniger sie aber weiß, desto größer sind ihre Fantasien. Desto mehr steigert sie sich in Vorstellungen von einem Unbekannten. Man kann das bizarr finden: Sie schreibt Leserbriefe, sie gibt reihenweise Interviews, sie kreiert ihre Internetseite, www.di-kind.de, sie ist anonym und öffentlich zugleich. Es wirkt wie eine Kampagne, oder, um es positiv zu wenden: wie ein Schrei nach Aufmerksamkeit.
Es ist wie mit Menschen, deren Angehörige Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind: erst wenn sie die Umstände der Tat kennen, können sie abschließen, den Verlust akzeptieren und mit der Trauerarbeit beginnen.
Sie will ihr unbeschwertes Leben zurück. Es gelingt ihr aber nicht, egal was sie unternimmt: Es ist dieses Ohnmachtsgefühl, das sie rasend macht.
Wie soll sie da Verständnis aufbringen für die Situation ihrer Eltern? Man kann darüber reden mit Petra Thorn, der Familientherapeutin. Oder mit dem Psychologen Tewes Wischmann, der an der Universität Heidelberg über Paare mit unerfülltem Kinderwunsch forscht. Oder mit Heribert Kentenich, dem Chefarzt der DRK-Frauenklinik Westend in Berlin. Sie alle haben die Verzweiflung von Menschen erlebt, denen diagnostiziert wurde, keine leiblichen Kinder bekommen zu können. Tewes Wischmann sagt: „Viele stürzen in eine existenzielle Krise, und wenn es einen Ausweg gibt – Adoption, Spendersamenbehandlung –, dann reden sie aus Scham später mit ihren Kindern oft trotzdem nicht darüber.“ Heribert Kentenich sagt: „Männer erfahren eine narzisstische Kränkung, wenn sie nicht zeugen können. Schweigen ist eine Möglichkeit, mit dieser Kränkung umzugehen.“ Petra Thorn sagt: „Männliche Unfruchtbarkeit und Spendersamenbehandlung sind in Deutschland ein Tabuthema. Früher rieten sogar Ärzte den Eltern, darüber zu schweigen, aus Angst, die Kinder würden sonst vom sozialen Umfeld abgelehnt.“
Manchmal denkt sie, wie es wäre, wenn sie sich nur noch der Suche widmen würde nach dem Teil von sich, den sie nicht kennt, aber den zu kennen ihr verbrieftes Recht ist. Das sind die Momente, in denen sie sich einen Anwalt nimmt. Sich den Wecker stellt, damit sie den telefonischen Beratungstermin bei ihm nicht verpasst. Minutiös ihre Klage auf Schadenersatz vorantreibt. Ein fünfstelliger Betrag schwebt ihr vor. Es soll richtig wehtun, nicht nur ihr. „Anders wird es kein gesellschaftliches Umdenken geben.“
Anders wird es vor allem für sie keinen Seelenfrieden geben. „Ich war immer eher ein sorgloser Mensch“, sagt sie. „Aber seit ich von dieser Lüge weiß, bin ich so misstrauisch geworden.“ Sie ärgert sich über sich selbst. „Das macht mich sehr traurig.“ Das Urvertrauen in ihre kleine Lebenswelt, die berechenbar, zuverlässig und beherrschbar schien, ist ihr, an einem einzigen Abend im vorigen Sommer, abhandengekommen.
Seither macht sie sich Gedanken. Wem kann sie vertrauen? Was ist Wirklichkeit, was Schein? Werden andere, die sie heute für aufrichtig hält, sie eines Tages auch enttäuschen? Der junge Mann, den sie jetzt schon so viele Jahre liebt und mit dem sie ihre Zukunft plant? Nein, sagt sie, an dieser Beziehung gibt es keinen Zweifel, sie ist eine Konstante in ihrem Leben, gerade jetzt. Andererseits: Hat sie das nicht auch von ihren Eltern gedacht? Wie konnte sie so blind sein all die Jahre?
Mit ihrem neuen Wissen wertet sie manche familiäre Situation anders. Weshalb der Vater stets eifersüchtig war auf das Verhältnis zwischen ihr und der Mutter. Weshalb er ihnen zuweilen in aggressivem Ton vorwarf, sie würden ihn absichtlich ausschließen. Wie einsam, verletzt und wütend muss sich jemand fühlen, der sein Leben lang mit einer unendlich schweren Rolle gekämpft hat und der jetzt, wo das Familiengeheimnis offenliegt, mit Kontaktsperre, emotionaler Abwendung und Vorwürfen bestraft wird? Der monatliche Unterhalt ist das Einzige, was sie noch annimmt von ihm.
„Natürlich fühlt sich der soziale Vater entwertet“, sagt die Therapeutin Thorn. Doppelt entwertet, müsste man wohl sagen, erst durch die Unfruchtbarkeit, jetzt durch die Unfähigkeit, den Ansprüchen der Tochter zu genügen.
Sie hat sich ein Ziel gesetzt, ein juristisches, ein kompliziertes, aber erreichbares Ziel: „Ich möchte, dass die Anonymität der Spender aufgehoben wird, dass alle Kinder Zugang zu den Daten haben.“ Bislang ist das nicht so. Anders als in den Niederlanden und in Großbritannien, wo die anonyme Samenspende abgeschafft wurde, ist der rechtliche Rahmen in Deutschland unklar. Eine Strafnorm, die die Anonymität verbietet, existiert nicht.
Die Berliner Rechtsanwältin Ulrike Riedel, Expertin für Medizinrecht, setzt sich seit Jahren für eine Klärung ein: „Wir brauchen dringend ein Fortpflanzungsmedizingesetz, das regelt, wie die Herkunft eines künstlich befruchteten Kindes dokumentiert wird.“ Riedel weiß, wovon sie spricht: Sie war Abteilungsleiterin im Bundesgesundheitsministerium unter Andrea Fischer (Grüne) sowie bis 2005 Mitglied der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin des Deutschen Bundestages“. Das Gesetz gibt es immer noch nicht. Stattdessen gibt es Richtlinien der Bundesärztekammer. „Auch wenn sich die meisten Ärzte daran halten“, sagt Riedel, „rechtsverbindlich sind diese Richtlinien nicht.“ Danach müssen Ärzte die Daten des Samenspenders dreißig Jahre lang aufheben und dem Spenderkind auf Wunsch offenlegen. Das Problem: Die Dreißigjahresfrist gilt erst seit 2006, vorher waren zehn Jahre Aufbewahrung empfohlen. Für die Jahrgänge vor 1996 gibt es kaum noch eine Chance der Rekonstruktion.
Wie und wo sie die Daten speichern, ist den Kliniken überlassen. Ein Zentralregister, an das sich Spenderkinder wenden könnten, existiert nicht. Ohnehin beschränkt sich die Dokumentationspflicht nur auf diejenigen Samenspenden, deren Empfängerinnen zur künstlichen Befruchtung einen Arzt in Deutschland aufsuchten. Das riesige, oft halb legale und schwer durchschaubare internationale Geschäft mit der Fruchtbarkeit bleibt davon unberührt.
Die Widerstände gegen ein Fortpflanzungsmedizingesetz in Deutschland sind auch deswegen so groß, sagt Riedel, weil dieses Gesetz ja nicht nur Fragen zur anonymen Samenspende regeln würde, sondern auch zu ethisch höchst umstrittenen Komplexen wie Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik und Embryonentransfer.
Sie weiß das. Es ärgert, aber es lähmt sie nicht. Derzeit, erzählt sie, suche sie andere Spenderkinder, europaweit. Es helfe ihr, das Gefühl des Alleinseins zu bekämpfen. Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyismus. Die Hoffnung, dass ihre Klage auf Schadenersatz eines Tages erfolgreich sein wird. Sollen andere denken, sie sei besessen. Sie sagt: „Es geht da auch um Selbstachtung.“
HEIKE HAARHOFF, 38, ist Reporterin der taz