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Archiv-Artikel

An der eigenen Hand aus der Tiefe emporgezogen

KÜSSE UND BISSE – NOTIZEN ZUM KLEISTJAHRE (11) Das Unrecht und die Selbstermächtigung, sie begegnen einem bei Kleist in vielerlei Gestalt

Im „Zerbrochnen Krug“ ist das Mädchen Eve vom Dorfrichter Adam sexuell genötigt und erpresst worden. In der „Marquise von O…“ vergewaltigt und schwängert ein Offizier im Krieg eine junge Witwe, später heiraten die beiden. Das „Käthchen von Heilbronn“, das dem Grafen von Strahl wie verhext – oder auch wie eine waschechte Stalkerin – folgt, entpuppt sich als Kuckuckskind, das kein Geringerer als der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs mit Käthchens bürgerlicher Mutter zeugte, als er beim Waffenschmied Friedborn in Heilbronn übernachtete.

Die mal versteckte, mal explizite Gewalt und der Umgang mit ihr überraschen mich bei Kleist immer wieder. Kleists Erzählungen, Lust- und Trauerspiele wimmeln in Haupt- und Nebenhandlungen nur so von „Sündenfällen“ und sexuellen Übergriffen, während man nach erotischem Einvernehmen (fast) vergeblich sucht. Vielleicht war sexuelle Gewalt zu Kleists Zeiten, zumal zwischen den sozialen Schichten, noch viel alltäglicher. Aber man braucht sich nur die öffentlich diskutierten Fälle der letzten Monate anzuschauen, um zu ahnen, dass nicht alles Geschichte ist. Strauß-Kahn und das afrikanische Zimmermädchen, das wäre ein echter Kleist-Stoff gewesen. Natürlich lässt sich nicht alles eins zu eins in die Gegenwart übertragen. So werden bei Kleist die Opfer sexueller Übergriffe entehrt und geraten sozial ins Abseits. Auch wenn es Spuren dieser „Schande“ immer noch gibt, münden seelische Demütigung und Verletzung heute vor allem in ein inneres Drama.

An Kleists Figuren bewundere ich die Radikalität, mit der die Opfer ihre Schwäche in Stärke wenden, ohne dass damit das ihnen Zugestoßene verkleinert wird. Nachdem die Marquise von O… hochschwanger aus ihrem Elternhaus verstoßen wurde, aber gegen den Willen ihres Bruders durchsetzt, ihre Kinder mitzunehmen, schreibt Kleist den irren Satz: „Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“ Mit sich selbst bekannt gemacht, was für eine Wahnsinnsformulierung!

Tatsächlich ist das Unrecht häufig Anlass zur Selbstermächtigung. Sie begegnet einem bei Kleist in vieler Gestalt, gern auch übersteuert, etwa beim Wutbürger Kohlhaas.

Zum anderen fasziniert mich die Abwesenheit von Psychologie bei intensivster Gefühlsschilderung. Kleists Figuren sind immer bewundernswert konkret in dem, was sie tun und empfinden. Wenn Liebe, Hass oder plötzliche Begierde über sie kommen, ist Therapie zwecklos. Natürlich haben die Käthchen und Penthesileen auch gar keine Zeit, depressiv zu werden, weil sie für die eigene Gefühlssache – sei es Scham, Liebe, Begierde – oder um ihre soziale Existenz kämpfen müssen. Das geht bis zur bewussten Verleugnung, wie die Marquise von O… sie mit atemberaubender Konsequenz bis zur Verheiratung mit dem reuigen Täter praktiziert. Natürlich lesen wir Heutigen Trauma!, Verdrängung! aus dem berühmten Gedankenstrich und dem kursivierten „Ich will nichts wissen“ der Marquise. Auch wenn Kleist diese Erzählung mit einer gehörigen Portion zynischer Ironie schrieb: Der Gedanke, dass im Gegensatz zur demütigenden Erinnerung aktive Verdrängung befreien und ein neues Leben in Würde ermöglichen kann, ist gerade in der Therapiegesellschaft interessant. EVA BEHRENDT

■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat der Dichter sich erschossen. Wir drucken immer am 21. eines Monats Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers