: Der Streik im Kleinen
Joseph Vogl schreibt eine Ode an das Zaudern – die Schattenseite der Tat. Denn wer nicht innehält, tilgt die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte
Das Zaudern. Der Zauderrhythmus. Die Zauderfunktion. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat in seinem neuen Buch „Über das Zaudern“ sichtlich Spaß daran, sich für diesen leicht zu übersehenden Moment des Innehaltens immer neue Wendungen und Begriffsverbindungen einfallen zu lassen. Doch es geht ihm um mehr als um das liebevolle Spielen mit einem formidablen Vokabelschatz. Vogl schlägt den Moment des flüchtigen Aufschiebens als Analysekategorie vor, und zwar für nichts weniger als die erneute Lektüre der großen Kulturtexte der aufgeklärten Moderne – Schiller, Freud, Musil, Kafka. Denn das Zaudern als Handlungs- und Denkfigur begegnet dem vermeintlich unabwendbaren Lauf der Dinge mit einem zweifelnden Stocken. „Das Zaudern ersucht um Revision.“ Das macht es so wertvoll.
Die literarische Inszenierung des Zögerns nun ist untrennbar von der Kulturgeschichte und dem Ethos der Tat, das bis heute für die Mehrheit von uns verbindlich ist. Doch die mannigfaltige Gegenwart, argumentiert Vogl, zeigt sich eben nicht allein in der Sammlung der vollendeten Handlungen, in den erreichten Leistungen. Vielmehr blitzt im momentweisen Nichtweiterwissen und im „Bestreiken des Weitermachens“ die Einsicht auf: Es könnte auch alles anders sein, es könnte anders gemacht oder geworden, es könnte anders gelaufen sein. Wie soll ich mich entscheiden? Das Zaudern ist also ein Mosaikstein in einem Denken, das den Möglichkeitssinn, den Zufall, ein Sichumentscheiden, den Prozess, kurz: die Kontingenz als Weltverhältnis gegen einen historischen Determinismus, gegen den Biologismus und seinen Anverwandten, den Rassismus, ins Feld führt. Dem kurzweilig zittrigen Willen wird also allerhand aufgehalst an Widerstandspotenzial.
Nun sind Kafka, Musil, auch Freud allesamt Zeitgenossen des Ersten Weltkrieges. Sie arbeiten in einem Erlebnis- und Erfahrungsraum, in dem Grauzonen zugunsten eines Schwarz-Weiß-Denkens getilgt werden und alles mit einer ungeheuren Grausamkeit überzogen wird. Und sie formulieren ihr Unbehagen im Entwerfen von männlichen (Anti-)Helden, von „Athleten des Zauderns“, deren Zögern – sei es aus Trägheit oder Überforderung – ihnen eine Humanität verleiht, die ihren Mitbürgern zunehmend abhandenkommt. Und auch Schillers Wallenstein verweigert sich einer frontentauglichen Handlungsweise, unentschieden und überdeterminiert, wie er ist. Dass das Zaudern selbst eine grausame, quälende Qualität hat und seine Protagonisten von Empfindungen wie Glück oder auch nur Entspanntsein weit entfernt sind, davon berichten die Romane auch. Auch Anteilnahme am Befinden anderer ist ihnen weitgehend fremd. Vogl aber interessiert ein anderer Aspekt.
Für ihn dient das Übersehen des Zauderns, oder seine Abqualifizierung als memmenhaft, der Legitimierung eines Denkens und Handelns, das über Leichen geht. Die politische Relevanz jener Denkfigur vom flüchtigen Aufschub offenbart sich daher vor dem Passepartout einer Kriegslogik. Denn Letztere legitimiert sich über die Behauptung der Zwangsläufigkeit: Wer A sagt, muss auch B sagen. Dem gegenüber stellt der im Zaudern sich ausformulierende „Aktionsstau“ die Welt unter „einen Komplexitätsverdacht“, und zwar gerade dann, wenn die „Konsequenzsucht“ die Oberhand gewinnt. Zauderer, so die Hoffnung, sind schlechte Kriegsführer. Und in Friedenszeiten gibt es für sie nicht „die“ Wissenschaft, „die“ Geschichte, „die“ Wahrheit. Für Zauderer ist die Welt in ihren tausend Facetten nicht über Hierarchien zu ordnen, dafür ist sie sowohl zu bunt als auch zu wenig überzeugend.
Die Theorie des Zauderns schreibt eine Theorie fort, deren Eckpfeiler Derrida, Deleuze und Guattari, Freud und Lacan sind. Und obwohl man sich manchmal wünscht, der Autor würde auch die Schattenseite der aufgeschobenen Handlung thematisieren und die politische Relevanz nicht nur geballt und irgendwie gehetzt auf den letzten Seiten umreißen, man wird nach der Lektüre nicht umhinkönnen, auch bei den eigenen Helden nach diesem leisen Widerstand zu suchen. INES KAPPERT
Joseph Vogl: „Über das Zaudern“. Diaphanes Verlag, 128 Seiten, 12 €