Eine rissige, zerbrochene und bedrängte Welt

BILDBAND Die lange und glückliche Reise eines Bilderbuchs zurück zu seiner ursprünglich geplanten Ausgabe: Josef Koudelkas großer Fotoband „Roma“ wurde in erweiterter Form neu aufgelegt

Für Romantik ist in „Roma“ kein Platz, es ist ein unbarmherziger Präsens, der aus allen Bildern spricht

VON LENNART LABERENZ

Ganz am Ende des Bands kommt Josef Koudelka noch einmal auf Ursprung und Motivation seiner Bilderserie zurück. Die Musik sei es gewesen, die ihn Anfang der 1960er Jahre zu den Roma hingezogen habe. Eines der letzten Bilder aus Josef Koudelkas epochalem, endlich, endlich vom tschechisch-französischen Fotografen in überarbeiteter Version wieder aufgelegtem Bildband „Roma“, entstand 1963 in der heutigen Slowakei: ein junger Saxofonist unter rau verputzter Decke, ein Mann am Schifferklavier, jemand mit skeptischem Blick daneben. An der Rückwand: Heiligenbilder; zur Mitte, im Spiegel, Tanzende, fast fröhliche Blicke.

Eben jene Musik der Cikáni habe ihn in diese Welt gezogen, erzählte Koudelka, jene klagenden Laute, die Melancholie, unter deren Dunkel sich auch Fröhliches mischt. Dabei entsprach die Welt der Roma in gewisser Weise auch seiner eigenen. Josef Koudelka, 1938 in den Hügeln Mährens geboren, ist selbst ein Fahrender, einer, dem zwei Hemden aus militärischen Beständen, zwei Jacken und eine Hose übers Jahr reichen. „Und zum Reisen ein guter Schlafsack.“

Auch „Roma“ selbst hat eine längere Reise hinter sich: Einen ursprünglichen Entwurf der Bilderserie hatte Koudelka in den 1960er Jahre erarbeitet, bevor ihn die Weltgeschichte unterbrach. Gerade hatte er seinen Job als Luftfahrtingenieur zugunsten der Fotografie an den Nagel gehängt, als sowjetische Truppen durch den Prager Frühling trampelten: Koudelkas spontane Straßenbilder erschienen unter einem Decknamen und dem Titel „Invasion“ im Ausland. Elliott Erwitt und die Agentur Magnum steckten dahinter, damals schmuggelte man noch Negative, um eine Berichterstattung zu ermöglichen. Anonym verliehen sie Koudelka sogar die goldene Robert-Capa-Medaille. Ausgerechnet der erfolgreiche Werbe- und Porträtfotograf Erwitt also, mit dessen Arbeitshypothese „Ich bin ein Taxifahrer, alle können mitfahren“ Koudelka wohl gar nichts gemein hat.

Der selbst begleitete kurz danach und offensichtlich ahnungslos eine Theatertruppe nach London, sah seine Bilder in einer Zeitung und erschrak. An Rückkehr war kaum mehr zu denken. Erwitt traf Koudelka in London, und in der Annahme, dass nun seine persönliche Zukunft diskutiert werden sollte, „habe ich in der Nacht davor das englische Futur gelernt“. Koudelka wanderte nun eine Weile staatenlos umher, wobei ihn die Roma nicht losließen: 1975 erschienen in Frankreich 60 Aufnahmen aus dem Roma-Zyklus unter dem Titel: „Gitanes: La fin de voyage“. Selbst in dieser knappen Form wurde der Band eines der großen Fotobücher des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeit als Theaterfotograf habe ihm auch bei den Roma geholfen: „Der Unterschied war, dass das Stück noch nicht geschrieben war und es keinen Regisseur gab. Es gab nur Schauspieler.“ Die nun 109 Bilder sind eine erweiterte Neuauflage, bis auf drei Ausnahmen allesamt aus den 1960er Jahren, eine Rückkehr zum ursprünglichen Konzept.

Und was sind das für Aufnahmen! Koudelkas Bilder berichten von den äußeren Rändern einer europäischen Gesellschaft, einer Welt voller knotiger Gelenke, schlammiger Füße, strengem Stolz. Einer rissigen, zerbrochenen und bedrängten Welt und einer Klasse, die nie dazugehören kann, für die es keinen Aufstieg gibt und die häufig nach Kräften daran arbeiten, ihre eigenen Lebensumstände zu verschlimmern.

Das körnige Schwarz-Weiß der Leica erzählt aber auch von jenem tiefen Vertrauen, von jener Freundschaft, die sich Koudelka mit seinen Protagonisten erarbeitet hat: Wochenlang und über Jahre verstreut, lebte der Fotograf bei seinen Protagonisten, vor allem in der heutigen Slowakei. Wenn er unter freiem Himmel schlief, nächtigten ein paar Bewohner neben ihm, zum Schutz. „Wenn sie einen Kugelschreiber fanden, brachten sie ihn zu mir, weil sie glaubten, dass ein Kind ihn mir vielleicht geklaut habe.“

Dabei entstanden Aufnahmen von schnörkelloser Direktheit. Für Romantik ist in „Roma“ kein Platz, vielmehr ist es ein unbarmherzig nötigender Präsens, der aus allen Bildern spricht: Ein Mann in Handschellen, verhaftet wegen Mordes an einer Geliebten, das Gesicht leer, läuft über den steinigen, zerfurchten Boden. Im Hintergrund hat sich das halbe Dorf versammelt, in Schach gehalten von Polizisten. Zur Rechten ein Haus, auf halbem Wege zwischen Rohbau und Verwahrlosung.

Die Gegenwart in Koudelkas Roma ist prall, erschütternd, überbordend oder melancholisch: Die bitteren Lebensumstände sind die Kulisse dieser Mischung aus Porträts und situativen Beobachtungen. Ein Mädchen das gleich im makellos weißen Kleid das Fest begehen wird, das sie zur Frau macht, steht vor einer schuppigen Hauswand. Dahinter ragen aus schiefen Fenstern die Blicke, die ihre nächsten Etappen sein könnten: eine Verhärmte und eine runzelige Alte.

Es sind oft die Blicke der Protagonisten, die eine Magie der Bildkompositionen ausmachen: Direkt wenden sie sich an den Betrachter, ausdruckslos, geradeaus. Ein Junge hält dem anderen ein Messer an den Hals, eine alte Frau trägt ein nacktes Kind durch den Frühjahrsschlamm; Kinder schauen für einen Moment von der Totenbahre der Alten auf, hin zum Fotografen. Ein bildhübsches Gesicht ragt aus einem Pferdekarren, halb erwischt, ein bisschen schüchtern. Auf der zerrissenen Plane steht: „Ammonium Nitrate“. Allesamt bohren sie dem Fotografen fast ein Loch ins Objektiv. Familien, Liebespaare, Kinder: Der Fotograf ist immer präsent, er ist immer Teil seiner Beobachtung. Und wenn man dieser konzentriert folgt und den vielen Geschichten auf den Bilden nachgeht, kann man manchmal, neben kalt pfeifendem Wind über karstigem Land, auch die Musik hören, die Koudelka hierherbrachte.

■ Josef Koudelka: „Roma“. Steidl Verlag, Göttingen 2011, 192 Seiten, 48 Euro