Ohne politisches Anliegen

Weil der zu Lebzeiten einflussreiche, danach rasch in Vergessenheit geratene Grafiker, Maler und Bildhauer Max Klinger in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden wäre, widmet ihm nun auch die Hamburger Kunsthalle eine Sonderaustellung

„Max Klinger ist nicht wiederzuentdecken“, schrieb vor 15 Jahren der Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm. „Immer, wenn ein neues Interesse für Realismus sich gegen die internationalistischen Tendenzen der Avantgarde behauptet hat, in den dreißiger, nach den sechziger und wieder in den achtziger Jahren, erinnerte man sich seiner, wenn auch nicht gleichermaßen euphorisch.“ Nie wieder indes sei er so „in den Olymp gehoben“ worden wie im Wien der Jahrhundertwende.

Ob also mehr dahinter steckt als bloß die Biografie, wenn der Zeichner und Grafiker, Maler und Bildhauer Klinger in diesem Museumsjahr – mit, je nach Zählweise, immerhin acht oder mehr Ausstellungen landauf, landab – geradezu einen Hype erfuhr? Gewiss, seinen 150. Geburtstag hätte der 1857 in Leipzig geborene Sohn eines wohlhabenden Seifenfabrikanten feiern können. Aber für einen, dessen merklich im 19. Jahrhundert beheimateter Drang hin zum die Gattungen einenden Gesamtkunstwerk begleitet wurde von einer kaum bestrittenen handwerklichen Meisterschaft gleich in mehreren Disziplinen, muss Klinger doch offenbar jedes Mal wieder aufs Neue zurückgerufen werden ins allgemeine Gedächtnis. Zwar mag noch 1927 eine Klinger-Siedlung in Dresden errichtet worden sein, aber eigentlich geriet er doch bald nach seinem Tod 1920 in Vergessenheit, zumindest innerhalb der Nicht-Fachwelt angeht.

Man wolle „aber auch den Klinger hier mehr ins Bewusstsein bringen“, sagte denn auch im Vorfeld die Hamburger Kuratorin Petra Roettig, deren Ende der vergangenen Woche eröffnete Ausstellung „Eine Liebe. Max Klinger und die Folgen“ nun das inoffizielle Klinger-Jahr beschließt. Was man in Leipzig, wo im Frühjahr, ebenfalls unter dem Titel „Eine Liebe“, eine etwas anders zusammengestellte Schwesterausstellung gezeigt wurde, ja „nicht mehr so muss“. Da wäre es, anders gesagt, doch überraschend, wenn die Hamburger Kunsthalle damit auch nur annähernd den Besuchererfolg hätte, wie ihn jüngst die Caspar-David-Friedrich-Schau bescherte. Andererseits: Vielleicht goutiert das Publikum des Vorzeige-Romantikers Friedrich so wie dessen ins Außen verlegte Seelenwelten ja auch Klingers symbolistische Verarbeitung antik-mythologischer Motive und seine teils albtraumhaften Fantasien; oder mehr noch seine Setzung, dass die Frau eine Art nie vollständig zu ergründendes Anderes sein müsse?

All die anderen Ausstellungen in diesem Jahr, so schickte Hamburgs Kunsthallendirektor Hubertus Gassner es der seinen voraus, hätten sich meist dem gewidmet, was man hinlänglich kenne – dem Grafiker Klinger. Womit er etwas kurz greift: So ging es etwa der im September zu Ende gegangenen Schau in der Kieler Kunsthalle ausdrücklich um „Klingers Nähe zum Film“ – zugegeben: sichtbar gemacht an seinen großen grafischen Zyklen. Auch in Braunschweig wiederum wurde im Frühjahr Klinger gezeigt, eingebettet in „einige der Vorbilder“ und unter Berücksichtigung der Wirkung Klingers auf den zeitgenössischen Nachwuchs. Mit dem Anspruch, genau diese Verzahnung mit Vorläufern, Zeitgenossen und Nachfolgern zum ersten Mal so richtig gründlich auszuleuchten, ist aber auch „Eine Liebe“ ausgestattet.

„Wir zeigen mehr Klinger selber“, sagt Kuratorin Roettig über das Verhältnis zwischen ihrer Ausstellung und jener in Leipzig. Weniger also die „sächsischen Bezüge, dafür mehr noch De Chirico und Max Ernst. Also die Auswirkungen auf die Surrealisten mit ihren Kollagen. Max Ernst zum Beispiel interessierte die graphischen Techniken, die Klinger nebeneinander setzt und mit denen er ganz irre Wirkungen erzielt. Klinger arbeitete ja auch mit merkwürdigen Versatzstücken, und das hat die Surrealisten unheimlich interessiert.“

200 Arbeiten, darunter neben den Grafiken eben auch 60 Gemälde sowie 20 Skulpturen hat man nun gestellt und gehängt. Darunter Leihgaben vor allem aus Sachsen, aber auch „nie gezeigte Kostbarkeiten aus dem eigenen Bestand“, so heißt es im Begleittext. Die beherbergt das Haus, weil ihm mit Alfred Lichtwark zur richtigen Zeit ein persönlicher Freund und Unterstützer Klingers vorstand; ab 1886 schaffte ihr erster Direktor etliche von dessen Arbeiten für die Kunsthalle an.

Den „originalsten Künstler, den Deutschland zu besitzen die Ehre hat“, nannte Hugo von Hofmannsthal zur selben Zeit Klinger, während der Proto-Surrealist Giorgio de Chirico um 1920 von dessen „tief empfundenen Kompositionen, die eine ganz bestimmte Stimmung evozierten“ schwärmte und ihn gar zum „modernen Künstler schlechthin“ erklärte. Mit den naheliegenden Assoziationen dieses Wortpaars haben Klingers mitunter klassizistisch daherkommende Skulpturen und überlebensgroße Büsten etwa Friedrich Nietzsches oder Johannes Brahms’ – die beide zu Klingers thematischen Zuliefereren zählten – nichts zu tun. Vieles seiner Skizzen und Wandgemälde ist formal näher am Schwulst gründerzeitlichen Dekors als an der Abstraktion des 20. Jahrhunderts; nicht von ungefähr wird da auch der heftig durch Klinger beeinflusste Karl-May-Illustrator Sascha Schneider gezeigt. Inhaltlich freilich beschreitet er, und das eben besonders in den schwarz-weißen Zeichnungen und Radierungen, durchaus Neuland: Noch bevor Freud seine Traumanalyse vorlegte oder gar die Surrealisten die traumartig-assoziative Kombination von nicht Zusammengehörendem zum Kunstgriff erhoben, ließ Klinger im Zyklus „Der Handschuh“ einen ebensolchen zum Leben erwachen und immer fantastischere Bilder durchlaufen.

Klinger selbst dachte Malerei und Zeichnung an sich unterschiedliche Möglichkeiten und Aufgaben zu: Dem Gemalten komme es zu, farbiges Abbild der Welt zu sein, während das Abgründige nur der Zeichnung innewohnen könne. Wobei sich der Abgrund nicht aufs Albtraumhaft-Übernatürliche beschränkt: Zum Motiv wurden dem Grafiker Klinger auch die Lebensbedingungen von Prostituierten und anderen gesellschaftlich Randständigen, was wiederum mit so manchem im Werk von Käthe Kollwitz korrespondiert. Nie allerdings mündete die Beobachtung des Elends in ein politisches Anliegen: Stets blieb der Fabrikantensohn und Akademie-Absolvent Klinger sich seines Standes bewusst – oder, je nachdem, den Anforderungen einer moralisch unbeteiligten, ästhetischen Sicht der Dinge.ALEXANDER DIEHL