: Aus demselben Holz
TECHNOLOGIE UND FREIHEIT Der Hamburger Kunstverein präsentiert den US-amerikanischen Avantgardefilmer und Künstler James Benning. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit dem „Unabomber“ Ted Kaczynski
VON ROBERT MATTHIES
Mysteriös ist die übergroße Seite aus den Tagebüchern des „Unabombers“. Auf sie fällt der erste Blick beim Betreten der Ausstellung „Decoding Fear“, die bis Anfang Mai umfassend das Werk des US-amerikanischen Avantgardefilmers und Künstlers James Benning in Hamburg präsentiert.
Geschrieben hat die Seite im Jahr 1983 der US-amerikanische Mathematiker und anarchistisch-neoluddistische Terrorist Theodore Kaczynski. Kurz zuvor hatte er seinen ersten Sprengsatz gebaut, zwei Jahre später sollte eine seiner Briefbomben ein erstes Todesopfer fordern: 1985 tötete Kaczynski den Besitzer eines Computerfachgeschäfts.
Einsiedler im Wald
Vom Leben im Wald rund um die selbst gebaute Holzhütte im einsamen Montana, in der der ehemalige Harvard-Professor Kaczynski von 1970 bis 1996 lebte, ist in dem Tagebuchauszug die Rede. Von der Suche nach Autonomie abseits einer technologischen Gesellschaft. Plötzlich aber wird Kaczynski paranoid – und macht sich selbst eine Technologie zunutze, die er in seinen 26 Jahre und 22.000 Seiten umfassenden Tagebüchern obsessiv angewendet hat: Mit einem elaborierten Code, den die US-Bundespolizei FBI jahrelang nicht dechiffrieren konnte, hat Kaczynski zentrale Stellen seines Textes verschlüsselt.
Die Obsessionen nachvollziehen
Sieben Jahre ist es nun her, dass das FBI die Tagebücher in einer Auktion versteigerte, zugunsten einiger Opfer des „Unabombers“ Kaczynski. Ein Freund Bennings erwarb sie, um sie diesem sowie der Künstlerin Julie Ailt zur Verfügung zu stellen. Dennoch ist nunin Hamburg kein Original zu sehen: Für seine erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland hat Benning die Seite repliziert, sie abgetippt – auf der Schreibmaschine, auf der Kaczynski selbst sein berühmtes Manifest „Die Industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ schrieb.
„Ich bin selbst sehr obsessiv“, sagt Benning. „Und ich möchte die Obsessionen anderer verstehen, indem ich ihre Obsessionen nachvollziehe.“ Obsessiv hat sich Benning auch mit Kaczynskis Tagebüchern auseinandergesetzt. In einem Glaskasten sind zwei kodierte Bücher zu sehen. Dazu ein Computerprogramm, das Benning geschrieben hat, um sie dechiffrieren – wiederum auf einem Computer aus dem Jahr ihrer Entstehung. Das Kopieren, das Codieren, das In-Beziehung-Setzen: Nie nähert sich Benning seinem Gegenüber direkt, schafft stattdessen einen Raum, der aufmerksames Beobachten zulässt.
Links neben dem Auszug aus Kaczynskis Tagebuch hängt eine weitere Seite: der erste Absatz eines Kapitels aus dem Buch „Walden“ des US-amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Henry David Thoreau. Auch der beschrieb, schon 1854, sein Leben in einer Holzhütte, die er sich in den Wäldern von Massachusetts gebaut hatte, um für zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage der industrialisierten Massengesellschaft der jungen USA den Rücken zu kehren. Lernen könne man nur durch Beobachtung, schreibt Thoreau, und diese Beobachtung müsse praktiziert werden. „Das ist auch meine Philosophie“, sagt Benning. „Beobachtung braucht Zeit, man muss aufmerksam sein.“
„Erst dachte ich, beide sind sehr unterschiedlich, stellen eine Art binäres System dar“, erklärt Benning die Gegenüberstellung des Terroristen und des als „Prophet des zivilen Ungehorsams“ bekannt gewordenen Schriftstellers. „Aber je mehr ich forschte, desto mehr begannen sie, miteinander zu verschmelzen.“ Auch Thoreau habe schließlich den Terroristen John Brown und seinen Kampf gegen die Sklaverei unterstützt.
Komplexe Verbindungen
Benning selbst verbindet einiges mit Kaczynski: Beide sind 1942 geboren, wuchsen in einfachen Verhältnissen auf, studierten Mathematik. Und auch Benning lebte Anfang der 1970er eine Zeit lang in einer Holzhütte auf dem Land. Viele technologiekritische Glaubenssätze teilt Benning mit dem Terroristen – nicht aber dessen Überzeugung, Gewalt sei ein legitimes Mittel: „Ich unterstütze nicht, was Kaczynski getan hat“, sagt Benning. „Ich rücke ihn in die richtige Perspektive.“
„Two Cabins“ heißt Bennings Projekt, in dem er sich seit sieben Jahren umfassend mit Kaczynski und Thoreau, mit dem solipsistischen Rückzug in die Wälder und der Revolution des Einzelnen gegen die technologische Revolution auseinandersetzt. 2006 baute er dafür auf seinem Grundstück in Kalifornien Thoreaus Hütte nach, ein Jahr später stand daneben eine Rekonstruktion derjenigen Kaczynskis. Beide sind in der Ausstellung nun als Architektur-Renderings zu erleben. „Ich wollte keine Kopie meiner Kopie machen“, erläutert Benning. „Hier geht es um den tatsächlichen Raum. Wenn man hineingeht, erfährt man ihn ganz physisch.“
Zwei Filme hat Benning mit den Hütten 2011 und 2012 gedreht: „Two Cabins“ wirft als Zweikanal-Installation jeweils einen 15-minütigen Blick aus dem Fenster auf die Bäume davor. Dazu hört man das Rauschen der Blätter, irgendwann fährt im Thoreau-Teil ein Zug vorbei. Auch das ein Umweg: Der Klang zur Aneignung des Blicks beider Einsiedler stammt von den tatsächlichen Standorten ihrer Hütten, vom Walden Pond und aus den Bergen Montanas.
„Stemple Pass“ wiederum betrachtet in vier halbstündigen Einstellungen die Reproduktion von Kaczynskis Hütte von der Veranda von Bennings eigenem Haus aus: im Frühling, dann im Herbst, im Winter und schließlich im Sommer. Für ein paar Minuten lässt Benning jeweils den aufmerksamen Blick auf Landschaft und Hütte zu, dann beginnt er vorzulesen, aus frühen Tagebüchern Kaczynskis, in denen er über das Erlernen der Autonomie schreibt; aus Teilen, in denen er beschreibt, wie er erste Sabotageakte begeht; aus Teilen, die das Bombenbauen behandeln; und schließlich aus dem Manifest.
Neu codierter Blick
„Während es Lesens verliert man die Landschaft, danach kommt sie zurück“, sagt Benning. „Aber codiert durch mein Lesen. Man sieht sie anders, als in den ersten Minuten.“
Immer wieder setzt die Ausstellung dieses andere Sehen, ein anderes Hören in Szene: Sieht man sich „Stemple Pass“ an, hört man beständig Züge vorbeirauschen. Der Klang stammt aus dem Raum nebenan. Hier sind zwei weitere Filme zu sehen, die sich gegenüberstehen, einander zugewandt sind: „RR“ aus dem Jahr 2007, gedreht auf 16mm-Film, zeigt 43 Aufnahmen der Durchfahrt eines Güterzuges in den amerikanischen Weiten. Jede Einstellung hat exakt die Länge der Durchfahrt des Zuges. „BNSF“ wiederum ist fünf Jahre später digital gefilmt worden. Hier fährt der Zug nur manchmal durchs ansonsten statische Bild, kommt ganz plötzlich – wie Bennings Stimme in „Stemple Pass“, die sich aus dem anderen Raum in das Rattern der Züge mischt.
■ Sa, 14. 2. bis So, 10. 5., Kunstverein in Hamburg. Künstlergespräch mit James Benning: Sa, 14. 2., 14 Uhr. Begleitend zeigt das Hamburger Metropolis-Kino Filme Bennings: Mo, 16. 2.: „Ruhr“; Do, 12. 3.: „Farocki“, Do, 16. 4., „13 Lakes“; jeweils 19.15 Uhr