: Die Demut der Unsichtbaren
AUSSTELLUNG Nicola Rubinstein spürt in der Brotfabrik mit der Schau „You are invisible now“ dem Performativen beim Betteln nach
VON LUISE CHECCHIN
Welche Haarfarbe hatte der Bettler in der U-Bahn heute Morgen? Wohl die wenigsten könnten diese Frage beantworten. Wir machen Obdachlose gern zu unsichtbaren Gestalten, hasten an ihnen vorbei, weil wir es eilig haben und sie sowieso lieber aus dem Augenwinkel wahrnehmen als mit vollem Bewusstsein.
Nicola Rubinstein hat versucht, genauer hinzuschauen. Ihre Ausstellung „You are invisible now“ in der Brotfabrik in Weißensee stellt die in den Mittelpunkt, die sonst meist übersehen werden – die Mittellosen, die um Geld bitten. In Fotocollagen und zwei Videoarbeiten will die Künstlerin das Betteln auf seine performative Dimension hin befragen.
Randständiges des Alltags
Rubinstein, die an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle studierte und heute in Berlin lebt, interessiert sich schon länger für das Randständige des Alltags. Ihr Werkzyklus „Alexandria Trio“ etwa zeigte Streifzüge durch die ägyptische Metropole anhand von Blicken in bunte Schaufensterauslagen.
In „You are invisible now“ geht es weniger farbenfroh zu: eine Straßenecke am Mauerpark, irgendwann vor Weihnachten, grauer Berliner Winter und dazwischen eine zierliche Figur mit stoischem Lächeln. „Bésame Mucho“, eine Videoarbeit von 2012, beobachtet eine Straßenmusikerin bei der Arbeit. Der Titel verweist auf das spanische Liebeslied, das die Frau in einer Endlosschleife quäkend fidelt.
Nur zwei Kameraeinstellungen braucht Rubinstein, um das Beklemmende der Situation auf den Punkt zu bringen: Zunächst sieht man den ganzen Straßenzug, die Musikerin wird fast verschluckt von der Backsteinmauer, neben der sie sich aufgestellt hat. Eigentlicher Beobachtungsgegenstand sind hier die Passanten – wie sie in dicken Wintermänteln, Weihnachtsbäume unter dem Arm, vorbei ins Warme eilen. Selten haben sie einen Blick für die Musikerin übrig, noch seltener ein Geldstück. Dann zoomt die Kamera heran, näher an die Frau mit dem faltigen Gesicht und dem festgefrorenem Lächeln. Alle halbe Minute ist ein schüchternes „Hallo“ von ihr zu hören, ansonsten ist keine Interaktion zwischen ihr und ihrer Umwelt zu erkennen. Parallele Welten, die an dieser Straßenecke koexistieren.
Dass Menschen Bettler im Straßenbild übersehen, ist keine neue Beobachtung. Indem Rubinstein aber einfach „draufhält“ und dieses Übersehen minutenlang unkommentiert zeigt, entsteht ein merkwürdiger Effekt: Man schaut sich scheinbar selbst beim Vorbeihasten zu und sieht das, voran man sonst vorbeihastet, plötzlich im Detail.
Die Straßenmusikerin in „Bésame Mucho“ steht an einer Straßenecke und geigt – ein scheinbar wenig inszenierter Vorgang. Ganz anders das zweite Video der Ausstellung, „one silver dollar“, von 2014: Hier geht es um die Performance, die Betteln auch sein kann. Zu sehen ist die Verwandlung eines Mannes. Mitten auf dem Kurfürstendamm steigt er in einen Sack und wird mit ein paar Handgriffen zu einer surrealen Erscheinung: Ein Bettelmönch, auf einen Stab gestützt, so erhöht sitzend, dass es aussieht, als würde er schweben.
Figuren wie bei Barlach
Wie inszeniert ist der Akt des Bettelns? Die Frage stellt man sich auch, wenn man Rubinsteins Fotoarbeiten betrachtet: In Collagen kombiniert sie Schwarz-Weiß-Bilder von Bettelnden mit vergrößerten Aufnahmen von Straßenpflastersteinen. Bunte Tape-Fetzen und weiße Sprayfarbe verstärken den Eindruck des Improvisierten, Unfertigen.
Ikonenhaft wirken die bettelnden Figuren: Fast alle sind verhüllt – Kapuzenpullis, Regencapes oder Kopftücher entziehen dem Betrachter die Gesichter. Sie kauern auf der Erde, den Kopf gesenkt, die Hände umschließen leere Pappbecher. Beinahe sakrale Erscheinungen sind das, in ihrer stoischen Demut erinnern sie an Barlach-Skulpturen.
Es ist verblüffend, wie sich die Haltungen der Porträtierten bis ins Detail ähneln. Die Muster, die Rubinstein hier aufzeigt, regen zum Nachdenken an: Wie viel Schauspiel steckt im Betteln, wie viel tatsächlich empfundene Not? Wie authentisch soll diese Handlung überhaupt sein? Ist es vielleicht gerade die Inszenierung, die den Bettelnden ihre Würde erhält, weil sie sich nicht entblößen müssen, sondern eine Rolle spielen können?
Schade aber, dass Rubinstein diese brisante Thematik entschärft, indem sie sie verkitscht. Die weiß hingesprühten Umrisse von Blättern und Halmen, die die Fotografien der Bettler einrahmen, haben etwas unangenehm Romantisierendes. Das sieht nach Kunst-Leistungskurs aus, und der beeindruckende Effekt, der sich allein aus den Motiven ergibt, wird so untergraben. Einfach hinsehen wäre schon genug gewesen.
■ „You are invisible now“ von Nicola Rubinstein bis 8. März in der Brotfabrik-Galerie, Caligariplatz. Mo.–Sa. 16–20 Uhr, So. 14–20 Uhr