hamburger szene
: Am Traditionspfad

Beinahe hätten wir Michael Naumann Unrecht getan. Im Restaurant des Greenpeace-Speichers versichert ihm der 80-jährige Literaturnobelpreisträger Günter Grass gerade seine Unterstützung im Wahlkampf. Und was tut der SPD-Bürgermeisterkandidat? Er angelt sich eine Rotweinflasche vom Tisch, um das Etikett zu studieren. Sieh mal einer an: Dem Naumann ist eine Flasche Grand Cru doch wichtiger als die Niederungen der Lokalpolitik! Da kann Grass zehnmal verkünden, dass sich die SPD jetzt wieder den benachteiligten Schichten zuwenden wird; dass ihm diese ganze neoliberale Richtung nicht passt, 2,6 Millionen Kinder in Armut und das alles.

Der Schriftsteller nimmt Hamburg als Beispiel für das, was schief läuft in der Republik, geißelt die Privatisierungen – und Naumann übergeht, dass der größte Teil der HEW einst von einem SPD-Senat verkauft worden ist. Grass will Hamburg wieder auf den Traditionspfad sozialdemokratischer Tugend helfen und schimpft über Politiker, die Rechtsradikale hoffähig machen, wie Ole von Beust, der sich von Schill an die Macht bringen ließ.

Naumanns Wahlkampf unterstützt Grass auch materiell: mit der limitierten Neuauflage eines Wahlplakates für die SPD von 1969 – ein Hahn kräht „SPD“ – und mit einer Reihe Lithographien eines Fischkopfes. Naumann revanchiert sich mit dem Rotwein, nachträglich zum Geburtstag. Der Kandidat hatte nur das Etikett memoriert. Die Flasche will Grass trinken: „nach dem Wahlsieg“. GERNOT KNÖDLER