Die eigene Stimme

Jedem Schreiben liegt ein existenzielles Stottern zugrunde: David Mitchell schreibt einen Adoleszenzroman: „Der dreizehnte Monat“

VON JÖRG MAGENAU

Nichts wäre schöner, als unsichtbar zu sein. Der dreizehnjährige Jason Taylor hat drei gute Gründe für diese Sehnsucht. Dann würde er von den anderen Jungs aus seiner Klasse nicht mehr gequält werden können. Als Stotterer, der er ist, könnte er die Gefahr verringern, zum Sprechen genötigt zu werden. Und zu Hause, in der Familie, läge es wenigstens nicht mehr an ihm, wenn die Eltern permanent in Streit geraten. Als „dreifach unsichtbar“ bezeichnet er sich selbst, doch wirklich verbergen kann er sich nur im Schreiben. Unter einem Pseudonym liefert er dem Gemeindeblatt Gedichte, die von seinen Nöten handeln. Nichts wäre schlimmer, denn als deren Autor entlarvt zu werden. Schreiben gehört zu den Dingen, die in der Klasse als „schwul“ bezeichnet werden und die zuverlässig Prügel nach sich ziehen.

Wenn Jasons Erfahrungsbericht eines erlebnisreichen Lebensjahres sich schließlich zu einem ganzen Roman auswächst, dann ist das schon ein bemerkenswerter Emanzipationsprozess. Im Schreiben triumphiert er über sein Stottern, das ihn zu einem Außenseiter macht. Vielleicht ist es ja so, dass jedem Schreiben ein gewissermaßen existenzielles Stottern zugrunde liegt, ein Mangel, den es zu überwinden gilt. Ein zentrales Kapitel, in dem Jason eine geheimnisvolle, alte Belgierin besucht, handelt deshalb vom Schreiben. Sie, die er zunächst für eine Hexe hält, wird für kurze Zeit seine Lehrmeisterin, die ihn mit der Frage nach „Schönheit“ und „Wahrheit“ konfrontiert.

Jason ist Hauptfigur und Ich-Erzähler in David Mitchells neuem Roman, „Der dreizehnte Monat“, der von nichts weniger als dem Verfall einer Familie, dem täglichen Überlebenskampf und der Entdeckung der Welt in der Tiefe der englischen Provinz in den abgelegenen Midlands handelt. Black Swan Green heißt der fiktive Ort, der die Absurdität des Daseins schon in seinem Namen trägt. Schwäne, seien sie schwarz oder grün, hat hier noch niemand gesehen. Mitchell erzählt ganz und gar aus der Perspektive und Erlebnisweise seines jungen Helden. Er imitiert dessen Sprache und den Jargon des Jahres 1982, als man noch die Talking Heads hörte, als eine schwere Rezession Arbeitsplätze gefährdete und als Maggie Thatcher glaubte, einen Krieg gegen Argentinien anzetteln zu müssen, um die felsige Einöde der Falkland-Inseln zu verteidigen. Für Jason sind die Kriegsberichte nationale Heldenmythen, bis schließlich der ältere Bruder eines Mitschülers zu den Toten gehört.

Dass Mitchell die Anverwandlung an seinen Erzähler so gut gelingt, hat damit zu tun, dass er selbst 1969 in Southport, Lancashire, geboren wurde, es also die eigene Jugendzeit ist, die zur Romanwelt wird. Mitchell gilt als erzählerisches Chamäleon, das sich scheinbar mühelos der unterschiedlichsten Stilmittel zu bedienen vermag. Kritiker in seinem Heimatland fragten sich schon, welche Stimme wohl seine eigene sei – eine absurde Frage bei einem, der die Komplexität und die Vielfalt liebt. Sein Erstlingsroman „Chaos“ verknüpfte neun Erzählerstimmen rund um die Welt. In dem grandiosen „Wolkenatlas“ – im Vorjahr auf Deutsch erschienen – verknüpfte er sechs Genres und sechs Epochen, vom Seefahrerroman bis zur Science-Fiction. In „Der dreizehnte Monat“ zitiert er spielerisch eine Künstlerepisode aus dem „Wolkenatlas“, indem er das Sextett eines genialen Komponisten, das dort eine zentrale Rolle spielte, noch einmal erklingen lässt.

Man kann den Adoleszenzroman also als weitere Probe des Vielfältigkeitstalentes David Mitchell lesen. Auch als Jugendbuchautor ist er stilistisch perfekt – obwohl dieser Roman für seine Verhältnisse eher unterkomplex ist. Volker Oldenburg hat den Slang der Midlands des Jahres 1982 unangestrengt ins Deutsche übertragen und sich dazu noch den Spaß erlaubt, den eigenen Namen als den eines Künstlers, „der in einem Kartoffelkeller in West-Berlin“ hochpreisige Bilder malt, unterzubringen. Denn so ähnlich ist es ja wohl gewesen, damals, 1982.

David Mitchell: „Der dreizehnte Monat“. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007, 496 Seiten, 19,90 Euro