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Archiv-Artikel

Doppelte Verlierer

TABUBRUCH

Der Artikel auf dieser Seite ist ein Vorabdruck aus dem neuen taz-Journal „Endlich. Tod – kein Tabu mehr“, das am 26. Oktober erscheint. Die Themen unter anderem: Warum spricht die Regierung von „Bündnispflicht“, aber nicht über das Töten, wenn sie Soldaten nach Afghanistan schickt? Warum muss eine Mutter ohnmächtig zuschauen, wie ihr unheilbar krebskranker Sohn verhungert? Oder: Wer hilft den Eltern, wenn sie über den Tod ihres noch ungeborenen Kindes entscheiden sollen? Das neue taz-Journal können Sie auf der Homepage www.taz.de/endlich, per Mail unter tazshop@taz.de, per Telefon unter (0 30) 2 59 02-1 38 oder per Fax unter (0 30) 2 59 02-5 64 bestellen.

Pauls Schwester ist an Leukämie gestorben. Annes Bruder durch einen Unfall. Brittas Bruder hat sich das Leben genommen. Ein Erfahrungsbericht

VON JUTTA HEESS

Paul: Wie lange war dein Bruder krank?

Fast anderthalb Jahre.

Paul: Meine Schwester vier Monate. Ich habe nicht kapiert, dass sie sterben wird.

Paul* ist 24 Jahre alt. Seine Schwester Marie war 18, als sie an Leukämie starb. Drei Jahre ist das her. Paul zieht ein Foto aus seinem Portemonnaie. Auf dem Bild ist ein mehrfachbehindertes Mädchen mit blonden Zöpfen zu sehen. Sie lacht fröhlich. Im Januar 2004 wurde bei ihr die Krankheit diagnostiziert, vier Monate später ist sie gestorben. „Sie war immer gut drauf“, sagt Paul und steckt das Foto langsam wieder ein.

Paul geht seit einem Jahr regelmäßig in die „Geschwistergruppe“. So nennt sich eine Gesprächsrunde für junge Erwachsene ab 17 Jahren, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben. Angeboten wird sie von den „Trauernden Eltern Rhein-Main“. In den Vereinsräumen in Mainz treffen sich die Geschwister einmal im Monat. Tim Sittel, Pfarrer und Klinikseelsorger, ist als fachlicher Leiter immer dabei.

Anne: Ich stoße so oft auf Unverständnis, wenn ich von meinem Bruder erzählen möchte.

Geht dir das auch so?

Paul: Ja, die Leute kucken dich bemitleidend an. Oft fragen sie gar nicht nach, wollen nicht wissen, was genau passiert ist. Oder sie sagen: „Oh, tut mir leid!“ Und schauen betreten zur Seite.

Anne ist seit acht Monaten dabei. Die 22-Jährige hat vor zwei Jahren ihren jüngeren Bruder Moritz verloren. Ein betrunkener Autofahrer hat ihn angefahren, Moritz war auf dem Fahrrad unterwegs. Eine Woche später starb er im Krankenhaus. Die Dritte in der Runde ist Britta. Auch sie ist 22. Ihr Bruder hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen. Sie ist heute erst zum zweiten Mal hier und erzählt, dass ihr der erste Besuch der Gruppe vor einigen Monaten gut getan habe. „Es war schön, mit Leuten zu reden, die verstehen können, wie es mir geht.“ Die Teilnehmerzahl ist immer unterschiedlich. Manchmal kommen nur zwei, an anderen Tagen über zehn Betroffene.

Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher stirbt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Freunde und Bekannten meistens auf die Eltern. Ein Kind zu verlieren, das sei das Schlimmste, was einem passieren könne, heißt es. Was es aber für die Geschwister bedeutet, einen Bruder oder eine Schwester zu verlieren, können die Wenigsten einschätzen.

Was bedeutet es eigentlich? Es fühlt sich an, als sei auch das eigene Leben zu Ende. Man sitzt einfach da und denkt: „Das war’s.“ Es tut weh, überall. Sie ist so bitter, ja speiübel, diese Erkenntnis: Der Menschen, mit dem man aufgewachsen ist, ist in Zukunft nicht mehr da. Der große Bruder etwa, der zum Trost Geschichten vorgelesen hat, wenn man vom Fahrrad gefallen ist. Mit dem man die Kindheit und Jugend erlebt, mit dem man gestritten, getobt, gelacht, geweint, die Eltern geärgert hat, den man bewundert hat, von dem man genervt war – er lebt nicht mehr. Man darf mit dem Mensch, mit dem man gemeinsam jung war, nicht erwachsen werden. Das eigene Herz ist plötzlich ein Loch, das des anderen schlägt nicht mehr. Beides zusammen ist die Hölle.

„Die Geschwistertrauer wird häufig tabuisiert oder nicht ernst genommen“, sagt Pfarrer Tim Sittel. „In der Regel dreht sich nach dem Tod eines Kindes alles um die Eltern.“ Eltern- und Geschwistertrauer könne man nicht vergleichen. „Aber man muss die Geschwistertrauer wertschätzen, und an dieser Stelle hapert es eben oft.“

Anne: Ich werde oft gefragt: „Na, wie geht’s deinen Eltern?“

Britta: Für meine Mutter ist es auch am schlimmsten von uns, glaube ich.

Paul: Wenn ich mir meine Eltern anschaue, klar, die sind auch total traurig, aber die drehen nicht so am Rad wie ich.

Wer kann schon beurteilen, für wen es schlimmer ist? Es gibt keinen Maßstab, man kennt nur seinen eigenen Schmerz. Die Hilfsangebote für Betroffene konzentrieren sich auf das Elternschicksal: Während trauernde Eltern zahlreiche Begleitungs- und Beratungsmöglichkeiten wahrnehmen können, gibt es für trauernde Geschwister kaum Angebote. In die Mainzer Geschwistergruppe kommen junge Menschen aus Frankfurt und Marburg, da es in ihren Städten keine organisierte Betreuung und keinen Austausch gibt. In Mainz wird auch eine Trauergruppe für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre angeboten. „Trauernde Geschwister werden meist nirgends aufgefangen“, sagt Tim Sittel. Der Seelsorger fährt sich durch die dunklen, lockigen Haare und trinkt einen Schluck Wasser. Es ist ein heißer Tag, er trägt T-Shirt und Bermudas.

Dieses Gefühl, das Alleinsein mit dem Schmerz, wird in der Gruppe häufig thematisiert. Anne erzählt, dass sie selbst mit ihren Freundinnen nicht wirklich über ihren Bruder reden könne. „Ich habe den Eindruck, das ist denen einfach zu viel.“ Britta kennt das auch. Und zum Unverstandensein kommt noch etwas hinzu: „An der Uni fühle ich mich allein, vor allem wenn die anderen anfangen, von ihren Geschwistern zu reden. Das macht es so schwer, weil viele doch oft etwas mit ihren Geschwistern unternehmen. Ich vermisse meinen Bruder dann umso mehr.“ Britta schildert, dass ihr Bruder an Depressionen gelitten, den Selbstmord einige Male angedeutet habe. Wie er sich umgebracht hat, erzählt sie nicht. Ihre Stimme ist fest. Sie sagt: „Ich habe so oft mit ihm gesprochen und konnte es dann doch nicht verhindern.“

Britta: Das schlechte Gewissen bleibt.

Anne: Ich habe das Gefühl, es macht mich verrückt, das wird mein ganzes Leben lang so bleiben, die ganze Zeit ohne ihn, dieser ganze Scheißschmerz. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.

Paul: Ich denke so oft an sie.

Anne: Und wie ist das bei dir? Nach achtzehn Jahren?

Das Vermissen hört niemals auf. Man lernt allerhöchstens, etwas besser damit umzugehen. Doch Sehnsucht und Trauer bleiben, vermutlich für immer. Die Bedeutung einer Geschwisterbeziehung erklärt Tim Sittel: „Die Geschwisterbeziehung ist die längste Beziehung, die man im Leben hat. Die Eltern sterben meistens früher, Partner und Kinder kommen später dazu.“ Auch wenn sich Geschwister oft streiten, sei es eine „ganz intensive Liebesbeziehung“. Aus der Zwillingsforschung weiß man, wie stark das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen Geschwistern ist. Die Verbundenheit ist fast immer stärker als die mit den Eltern, manchmal auch stärker als die mit dem Partner oder eigenen Kind.

Durch den Tod eines Bruders oder einer Schwester entsteht ein Ungleichgewicht in der Familie – vor allem, wenn es zwei Kinder gibt. „Einer ist plötzlich allein, es gibt kein Gegenüber auf gleicher Ebene mehr, kein Nebeneinander, keinen Verbündeten“, sagt Tim Sittel. „Auch wenn der Verlust eines Kindes für Eltern schrecklich ist: Die beiden haben immer noch sich, egal ob gut oder schlecht.“

Paul berichtet von seinen Eltern, die sich seit Maries Tod ständig streiten, die sich wahrscheinlich trennen werden. Er selbst ist gerade ausgezogen, er sagt, dass er das nicht mehr mit ansehen könne. Er klingt genervt, aber entschlossen: „Ich will auch mal wieder an mich denken.“ Und Britta klagt über ihre Mutter, die sie nun mit ihrer Sorge einenge. „Egal, was ich mache, ob ich zur Uni gehe oder spätabends noch mal wegwill, sie hat immer Angst, dass mir auch noch was zustoßen könnte.“ Britta sagt auch, dass sie jetzt eine andere Beziehung zu ihren Eltern habe. „Ich habe das Gefühl, ich muss für meine Eltern da sein, ich will ihnen helfen, ihnen etwas Gutes tun.“ Paul kennt das auch, dass sich plötzlich alles auf ihn konzentriert. Auch bei ihm ist es die Mutter, die sich an ihn klammert. Dabei kann auch das Gegenteil der Fall sein: Gruppenleiter Sittel erzählt von Fällen, in denen sich die Eltern in ihren Gedanken und Gefühlen ganz auf das verstorbene Kind konzentrieren. Das noch lebende Kind oder die noch lebenden Kinder werden vernachlässigt. „Wenn ein Kind stirbt, sind die Geschwister die doppelten Verlierer“, sagt er. „Sie verlieren nicht nur Bruder oder Schwester, sondern auch die Eltern, egal wie.“

Die Eltern fallen mehr oder weniger aus während der Krankheit des Kindes oder nach dem Tod. Sie kümmern sich danach in übertriebener Fürsorge um das lebende Kind und erdrücken es quasi. „Die Beziehung zu den Eltern verändert sich radikal“, sagt Sittel. Ein bewährtes System bricht zusammen.

Wie viele Jahre seid ihr auseinander, du und deine Schwester?

Paul: Drei. Finde ich cool, wie du fragst. Du sagst „seid ihr auseinander“ und nicht „wart“.

Paul erzählt von Maries Grabstein. Dass er im Grunde erst dann, als der Grabstein aufgestellt wurde, Monate nach Maries Tod, verstanden habe, dass sie tot ist. „Es war wie ein Schlag, da habe ich es wirklich realisiert, glaube ich.“ Er greift sich an die Stirn. Und er erzählt auch, wie er – etwa ein halbes Jahr nach ihrem Tod – nach einem Streit mit seinem Vater in Maries Zimmer alles kurz und klein geschlagen hat. Dass er sich auf der Straße prügelte, an der Uni keinen Ton mehr rausbekam. „Ich war so verunsichert, nervös und wütend“, sagt er. Seit er hier ist, in der Geschwistergruppe, geht es ihm besser, hat er sich wieder ganz gut im Griff. „Oh Mann, wie ich damals drauf war!“

Die Gesprächsrunde ist offen für jeden. Es gibt auch keine vorgegebenen Inhalte. Die Teilnehmer reden, worüber sie reden wollen. Tim Sittel übernimmt die Rolle des zurückhaltenden Moderators, fragt höchstens nach, wenn das Gespräch stockt, gibt ab und zu einen dezenten Hinweis oder Ratschlag. Obwohl er Pfarrer ist, spielt Religion keine Rolle. Es wird geschwiegen, es wird geweint, es wird auch gelacht. Und es kommt eine Menge zur Sprache.

Die Betroffenen stellen viele Parallelen zwischen sich fest: dass sie auch heute noch gern über gemeinsame Erlebnisse mit ihren Geschwistern sprechen; dass sie die Trauer manchmal wahnsinnig macht und sie nicht wissen, wie sie das packen können; dass sie auch wieder Spaß am Leben haben, manchmal dann aber mit einem schlechten Gewissen; dass ihnen die Beziehung zu einem festen Freund oder einer festen Freundin schnell zu eng wird; dass sie das Gefühl haben, nicht verstanden zu werden; dass sie sich ganz oft überlegen fühlen.

Paul: Ich komme mir oft so weise vor, so reif, weil ich schon so was Schlimmes erlebt habe.

Anne: Ja, ich fühle mich immer erhaben und denke über andere: „Ach, die haben Probleme, ihr Armen, ihr wisst gar nicht, worum es geht im Leben.“

Überlegenheit? Manchmal bekommt sie Brüche: Paul erzählt, er denke oft, der Rest des Lebens werde nun viel einfacher. „An guten Tagen machen mir bestimmte Sachen nichts aus, dann habe ich eine Grundgelassenheit, vorher hätte ich so manches viel schlimmer gefunden.“ Auf der anderen Seite aber mache ihm die Trauer so viel Stress, dass es schwierig sei, immer über allem drüberzustehen.

Vor zwei Tagen ist Paul mitten in der Nacht in die Mainzer Uniklinik gegangen. In die Intensivstation. Wo seine Schwester gestorben ist. Eine Krankenschwester habe ihn erkannt und mit in das Zimmer genommen, in dem Marie ihre letzten Tage verbracht hat. „Ich war eine Stunde dort, habe mich noch lange mit der Krankenschwester unterhalten. Ich habe mich so gut gefühlt danach.“ Er lächelt. Hier, in der Gesprächsrunde, muss sich Paul nicht verstellen.

Anne hat ein Bild für ihre Trauer gefunden: Sie sei wie eine Wunde, die zwar zuheilen könne, aber immer wieder aufreiße. „Das Mindeste, was bleibt, ist eine Narbe.“ Sie erzählt, wie die Trauer sie neulich am Strand im Urlaub plötzlich überwältigt hat. „Sein Bild war so deutlich vor mir, sein Mund, seine Nase, als sei er wirklich da“, beschreibt sie. „Aber es war auch im selben Moment so furchtbar, weil mir klar wurde: Ich kann ihn nie wieder sehen! Nie wieder umarmen! Ich hätte schreien können.“ Sie greift zum Taschentuch. Alle wissen, wovon sie spricht.

Am Ende der zweieinhalb Stunden betonen Anne, Britta und Paul, wie gut ihnen das Gespräch getan habe. „Ich konnte wieder etwas abladen“, sagt Anne. Und beim Rausgehen wird noch allen klar: So hart es ist, einen Bruder oder eine Schwester zu verlieren, so schwer es manchmal fällt, mit diesem Verlust fertig zu werden, und so sehr dieses Erlebnis prägt – das Allerschlimmste ist nicht unser Schicksal. Sondern das unserer Geschwister. Sie durften ihr Leben nicht leben.

* Alle Namen geändert

JUTTA HEESS, 35, ist Autorin der taz und lebt als freie Journalistin in Berlin. Ihr großer Bruder starb 1989 im Alter von 22 Jahren an Krebs