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Archiv-Artikel

Plötzlich war da dieser Riss

Die Müllers

Der Vater Kurt Müller, Jahrgang 1903, ist Sozialist und aktiv im Widerstand gegen Hitler. 1933 inhaftiert man ihn im KZ Sachsenburg. 1938 zieht die Familie nach Mecklenburg, wo Kurt Müller als Betriebsprüfer für Landkrankenkassen arbeitet. Trotz Vorbehalten gegen die Zwangsvereinigung von KPD und SPD engagiert er sich in der SED, bricht aber wenige Jahre später mit dem DDR-System. 1951 flieht er mit seiner Frau und dem jüngeren Sohn in den Westen. Bis 1967 arbeitet er als Beamter im Tübinger Regierungspräsidium. 1977 stirbt er.

Heiner Müller wird 1929 im sächsischen Eppendorf geboren. Als die Familie 1951 die DDR verlässt, bleibt er in Ostberlin zurück. Er verdingt sich als Literaturkritiker und freier Autor. 1958 wird er Mitarbeiter am Maxim Gorki Theater, 1970 geht er als Dramaturg ans Berliner Ensemble, 1976 an die Volksbühne. Müller ist bereits 1947 in die SED eingetreten, aus deren Reihen immer wieder Kritik an ihm laut wird. 1961 schließt man ihn aus dem Schriftstellerverband aus. 1984 wird er Mitglied der Akademie der Künste, ab 1992 gehört er zur Leitung des Berliner Ensembles. 1995 stirbt er in Berlin.

Das – schwierige – Verhältnis zum Vater ist Thema seines Gedichts „Der Vater“ aus den Fünfzigerjahren sowie der Erzählung „Der Vater“. Auch in Müllers letztem Theaterstück, „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“, tritt Vater Müller mit dem Sohn noch einmal auf, ebenso in seiner mündlichen Autobiografie „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“. Lesenswert ist auch die Biografie von Jan-Christoph Hauschild: „Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel“. KATHLEEN FIETZ

Der Verwaltungsbeamte Kurt Müller – und wie sein Sohn Heiner Müller ihn zum Gespenst machte

VON KURT OESTERLE

Am Ende seines Lebens hätte Heiner Müller mit seinem Vater gerne ein Totengespräch geführt. Um sich zu entschuldigen. Der Vater war ein Linker gewesen. Der Sohn verstand sich zeitlebens gleichfalls als Linker. Was hat die beiden dennoch getrennt? Die Antwort: vor allem der Stalinismus der frühen DDR. 1951 floh Kurt Müller in die Bundesrepublik, seine Frau und sein jüngster Sohn folgten ihm. Sohn Heiner blieb im Osten, vollkommen einverstanden mit dem SED-Staat. Von Zeit zu Zeit, auch nach dem Mauerbau, konnte er die Eltern besuchen. Kurt und Ella Müller hatten sich im baden-württembergischen Reutlingen niedergelassen, zuerst zur Untermiete gewohnt, dann ein eigenes Haus gebaut. Heiner Müllers Vater arbeitete anfangs bei einer Wohnungsbaugesellschaft, schließlich beim Regierungspräsidium in Tübingen. Der Sohn konnte in ihm lange nur einen saturierten Beamten sehen.

Dabei übersah er in seiner später von ihm selbst beanstandeten „Funktionärshaltung“, welches Drama der Vater durchleiden musste, als er Wiedergutmachung für alle Schäden forderte, die ihm die Nazis zugefügt hatten. Kurt Müller, der Widerstand gegen beide deutschen Diktaturen geleistet hatte, starb am 18. März 1977 mit vierundsiebzig Jahren. Als Heiner Müllers Mutter Ella Anfang der Achtzigerjahre ihr Reutlinger Haus verkaufte und in die DDR zurückging – der jüngere Sohn war schon vorausgegangen –, nahm sie die Urne ihres toten Mannes mit.

Noch bei dessen Tod musste er den Vater kritisieren. Als Heiner Müller im Frühjahr 1977 nach Reutlingen kam, um seinem Vater die letzte Ehre zu erweisen, da sah er den bereits Eingesargten so: „Ich kam zu spät, um ihn sterben zu sehen. Sein Gesicht trug einen Ausdruck von Verachtung, wie Macht über Menschen, an Schreibtischen ausgeübt, ihn Gesichtern aufprägt. Oder war im Todeskampf die Ironie, seine Waffe der Ohnmacht gegen die Enttäuschungen seines Lebens in der Politik, zu der Maske des Hochmuts geronnen, die meine Trauer abwies?“ Sonst weiß er rückblickend nichts von der Beerdigung zu berichten, höchstens dass die Mutter ihm gesagt hatte, auch die VVN, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, bei der der Vater Mitglied gewesen war, habe einen Kranz geschickt: ohne Schleife und Absender, um den Ruf der Familie zu schonen. Offen durfte der Tote dagegen von seiner Partei geehrt werden, der SPD, der er seit 1923 angehört hatte und für deren Reutlinger Ortsverein er als Kassierer tätig gewesen war.

Die Erinnerung an die Beerdigung seines Vaters hat Heiner Müller erst fünfzehn Jahre später niedergeschrieben; der Text, der daraus hervorging, wurde aus dem Nachlass veröffentlicht. Erst kurz vor seinem eigenen Tod also ist ihm bewusst geworden, was mit seinem Vater unter den Boden kam: „das Gespenst meiner Kindheit, mit meinen schreckgeweiteten Augen, dem vom Weinen verzogenen Mund, dem gefrorenen Salz meiner Tränen“. Das klingt nach einem von den Eltern verursachten Kinderleid. Doch Heiner Müller meint es anders. Sein Vater war ihm ein guter Vater gewesen, das wusste er nicht erst im Alter: Die Ballade von den Königskindern ließ er immer gut ausgehen, damit der kleine Heiner nicht weinte. Er sang dem Sohn Lieder vor: „Warum weinst du, arme Seele, / vor der himmlischen Tür?“ Oder machte ihn mit Grimmelshausens „Simplizissimus“ vertraut. Seine illustrierte Casanova-Ausgabe tauschte Kurt Müller bei einem Kollegen gegen Schiller- und Hebbel-Bände ein, von denen er glaubte, dass sie dem Sohn förderlicher seien. In seiner gesprochenen Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ sagt Heiner Müller: „Von da an wollte ich Stücke schreiben. Die Schule konnte mir die Klassiker nicht mehr verderben, weil ich sie schon kannte.“ Verboten war ihm vom Vater nur Edgar Allan Poes „Abenteuer des Gordon Pym“, wegen der Kannibalismusmotive.

Kurt Müller war ein freiheitlicher, antiautoritärer, demokratischer Sozialist. Als sein Sohn Heiner, der Linkshänder, in Vorbereitung auf die Schule notgedrungen das Schreiben mit der rechten Hand lernen musste, besorgte sein Vater ihm einen Lehrer, der es ihm zwanglos beibrachte. Glücksmomente erlebte der Sohn, wenn der Vater ihm erlaubte, „auf einer Terrasse mit Weinlaub“ bei Gesprächen mit Freunden anwesend zu sein. Gespräche, von denen er „nichts verstehen musste“, um zu wissen, dass es gute Gespräche waren. „Du hast Dich vor mir nie auf das Podest des ‚Vaters‘ gestellt“, räumt der Sohn 1952 in einem Brief an den Vater nach Reutlingen ein.

Nein, das ein Vierteljahrhundert später begrabene Kindheitsgespenst war keine vom Vater erregte Furcht – sondern eher die Furcht um den Vater, die Traumatisierung des Sohnes durch das, was dem Vater angetan worden war. 1933: Der aktive Hitlergegner Kurt Müller wird von Braunhemden im eigenen Haus misshandelt. Er war zu dieser Zeit Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), einer linken Abspaltung der SPD, der auch Willy Brandt angehörte. Die SAP-Genossen hatten sich zum bewaffneten Widerstand entschlossen und einen Revolver, der Müllers Vater gehörte, für den Tag X im Wald vergraben. Doch das Versteck wurde preisgegeben, und zwar durch den Lehrer, von dem Heiner Müller das Schreiben mit der rechten Hand gelernt hatte. „Dieser Lehrer war ein etwas weicherer Typ als mein Vater, und sie haben ihn so lange geprügelt, bis er verriet, dass mein Vater einen Revolver hatte.“

Heimlich sieht der vierjährige Heiner zu, wie sein Vater bei der Abholung geschlagen wird. Als der Vater sich noch kurz verabschieden darf, stellt der Sohn sich schlafend, „auch als mein Vater meinen Namen rief“. Noch im selben Jahr besucht er zusammen mit der Mutter den Vater im KZ Sachsenburg. An einem „Drahtgittertor“ steht man sich gegenüber. Heiner zeigt dem Vater Bilder, die er für ihn gemalt hat, auch Zigarettenbildchen hat er mitgebracht. Der Junge kann nicht verstehen, dass der Vater nicht flieht. Tage später sagt seine Mutter zu ihm, im Schlaf rufe er immer wieder: „Spring doch über den Zaun!“

Daheim im sächsischen Eppendorf ist die Familie geächtet, weil der Vater als Staatsfeind gilt. In der Lokalzeitung ist er neben anderen inhaftierten Linken mit geschorenem Kopf im Bild zu sehen; darunter steht: „Das sind die Bolschewisten, die euren Kindern die Milch und euch eure Frauen wegnehmen wollen.“ Seine Spielkameraden teilen Heiner mit, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein dürfen. In Müllers Autobiografie heißt es: „Auch diese Erfahrung ist eine wichtige Voraussetzung für vieles Spätere. Immer war ich isoliert, von der Außenwelt getrennt durch mindestens eine Sichtblende.“ Eine zweite Demütigung kommt noch hinzu, ausgerechnet durch einen der wenigen Eppendorfer, die sich bereitfanden, den Müllers zu helfen: einen Fabrikanten, der Heiner während der KZ-Haft des Vaters einen „Freitisch“ bot, ohne zu ahnen, dass der Junge es als „ungeheure Erniedrigung empfand, dort am Tisch zu sitzen, sich durchfüttern zu lassen“. Rückblickend glaubt Heiner Müller, dass so „ein Hasspotenzial, ein Rachebedürfnis“ in ihm entstanden sei.

In seiner Autobiografie überliefert er auch folgende Anekdote: Der Lagerkommandant fragte seinen Vater, der durch sein schwarzes Haar auffiel, beim Appell: „ ‚Jude?‘ Mein Vater antwortete: ‚Nein, nicht dass ich wüßte.‘ – ‚Dann hat sich deine Mutter von Juden ficken lassen.‘ Die Mutter meines Vaters war eine glühende Nationalsozialistin und verehrte Hitler. Die Geschichte von dem Appell hat er ihr natürlich erzählt, mit großer Schadenfreude.“

Die Heimkehr des Vaters verlief so: Da der Staat ihm zur Auflage machte, seinen Heimatort Eppendorf nicht wieder zu betreten, gingen Heiner Müller und die Mutter ihm entgegen, um ihm am Dorfausgang einen Wintermantel zu übergeben. „Schnee fiel, wir winkten ihm nach, bis er ein Punkt im Schneetreiben war“, heißt es im nachgelassenen Prosatext aus den Neunzigerjahren. Im benachbarten Bräunsdorf durfte der Vater sich niederlassen, im wenig geräumigen Haus seiner Eltern, in das Ehefrau und Sohn bald nachzogen.

Nach seiner Entlassung aus dem KZ war Kurt Müller mehrere Jahre arbeitslos, erst 1938 sollte er wieder eine langfristige Anstellung finden, als Betriebsprüfer für die Landkrankenkasse im mecklenburgischen Waren. Den gelernten Verwaltungsfachmann, der in kommunalen Einrichtungen der Weimarer Republik seinen Beruf erlernt hatte und 1931 Beamter auf Lebenszeit geworden war, hatte im Frühjahr 1933 das Nazi-Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ getroffen, mit dem Juden, Republikaner und Linke zu Abertausenden aus dem Staatsdienst gedrängt worden waren. Er hatte zuvor einige Jahre im Rathaus in Eppendorf gearbeitet. Jetzt blieb ihm nur, den Bauern der Umgebung für Naturalien amtlichen Rat zu erteilen, während die Mutter als Näherin in einer Fabrik arbeitete. Die Zeit, die dem arbeitslosen Kurt Müller blieb, nutzte er zum juristischen Selbststudium sowie zur Lektüre vor allem philosophischer Werke. Sein Sohn Heiner konnte den ganzen Tag um ihn sein und freute sich, an den intellektuellen Ausflügen des Vaters teilzunehmen. „Das Bedürfnis, alles zu wissen, alles zu kennen, war sehr ausgeprägt bei ihm, und ich war sein einziger Gesprächspartner.“

In tiefer gesellschaftlicher Ächtung halten die Müllers zusammen. Ihr Heim ist ihnen „Festung“, wie der Sohn es später ausdrücken sollte. Das Gefühl des Geschütztseins hält an bis Ende 1935, als Heiner von der Schule heimkommt und einen Aufsatz über „Die Straßen des Führers“ schreiben muss. Der Beste erhalte eine Prämie, teilt er mit. Er erhält sie, doch um welchen Preis: Sein Vater hatte ihm, in der Hoffnung, endlich wieder Arbeit zu finden, einen hitlerfreundlichen Satz in die Feder diktiert. „Dieser Satz löste bei mir den Verratsschock aus“, berichtet der Sohn später. „Ich war so erzogen, dass ich wusste, draußen ist der Feind, die Nazis sind der Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zu Hause halten wir zusammen. Plötzlich war da dieser Riss.“

Beim Erstellen seines mündlichen Lebensberichts „Krieg ohne Schlacht“, in der auch diese Geschichte mitgeteilt wird, fiel den Interviewern die Qual auf, mit der Heiner Müller über seinen Vater redete. Danach gefragt, antwortete er: „So etwas entsteht sicher aus einem Überdruck an Erfahrungen, die so schockhaft sind, dass man sie nicht ohne Störungen verarbeiten kann. Also entwickelt man Verdrängungsapparate. Es ist schon so, nach der ersten Trennung von meinem Vater war er in gewisser Weise für mich ein Untoter, als er aus dem KZ zurückkam.“ Einer der „Verdrängungsapparate“ dürfte bewirkt haben, dass Heiner Müller seine Traumatisierungen politisiert hat. Das kann ihm endgültig aber erst gelungen sein, als sein Vater mit der DDR brach und, dem Rat eines alten Gefährten aus der Vorkriegs-Arbeiterbewegung folgend, in die Bundesrepublik zog, nach Reutlingen.

Kurt Müller war gegen die Vereinigung von SPD und KPD zur staatstragenden Sozialistischen Einheitspartei gewesen, und er hatte seine Abneigung gegen die „Zwangsvereinigung“ nicht verborgen. Trotzdem war er bereit gewesen, sich dem neuen Staat als Verwaltungsfachmann zur Verfügung zu stellen, etwa als stellvertretender Landrat in Waren (Müritz). Auch der SED hatte er sich gegen alle inneren Widerstände nicht verweigert, war am 1. Mai 1946 zu deren Warener Kreis- und Ortsgruppenvorsitzenden gewählt worden, in den mecklenburgischen Landesparteivorstand aufgestiegen. Es scheint, als habe Heiner Müllers Vater in der Politik moderierend, humanisierend wirken wollen, doch er musste wohl feststellen, dass er immer tiefer in die revolutionäre Gewaltpolitik des ostdeutschen Staats hineingerissen wurde, bis an die Grenze des Unerträglichen.

Diese Grenze scheint allmählich erreicht gewesen zu sein, als Kurt Müller auf Wunsch einiger Genossen, mit denen er im KZ gewesen war, Bürgermeister der kleinen sächsischen Industriestadt Frankenberg wurde. In seiner Autobiografie berichtet der Sohn: „Meine Mutter erzählte, dass die Russen meinen Vater vom Fußballspiel abgeholt haben, um ihn zu verhören und zu bedrohen. Ich kann mich da an nichts erinnern. Zudem war da das Problem, dass ich viel mehr als mein Vater mit dem, was da passierte, zum Beispiel Enteignungen, konform war. Ich fand das in Ordnung. Ich habe mich viel mehr damit identifiziert, als mein Vater das konnte. Er kriegte als Bürgermeister immer Besuch von weinenden Frauen … Ich war grundsätzlich für jede Enteignung. Ich wäre auch für die Enteignung des Totengräbers gewesen. Ich hatte eine rachsüchtige, linkssektiererische Einstellung zu dem Ganzen … Ich bin überhaupt, glaube ich, ein sehr rachsüchtiger Mensch. Das könnte auch der Grund gewesen sein, weswegen mein Vater mit mir über viele Dinge, die ihn quälten, nicht im Detail gesprochen hat. Ich habe mit meinem Vater damals über Dinge jenseits der Politik, über Philosophie und Literatur, gesprochen. Zum Beispiel weiß ich nichts über tote Folteropfer im Keller eines von Russen besetzten Gebäudes, die mein Vater als Bürgermeister beseitigen sollte. Mein Bruder erinnert sich daran genau. Da bin ich mir selbst gegenüber etwas misstrauisch.“

Von der Flucht des Vaters in den Westen erfährt Sohn Heiner erst, als alles vorbei ist; man scheint ihm in der eigenen Familie nicht recht getraut zu haben. Alle Härten der Diktatur fand er legitim; in seiner Autobiografie nennt er dafür sonderbarerweise keinen politischen, sondern einen persönlichen Grund: weil es sich um eine Diktatur handelte „gegen die Leute, die meine Kindheit beschädigt hatten“. Von seinen Eltern hingegen nahm Kurt Müller ausgiebig Abschied. Zur Begründung seines Weggangs soll er ihnen gesagt haben: „Ich habe eine unheilbare Krankheit – Sozialdemokratismus!“

Mit dem Weggang des Vaters in den Westen fand der Sohn Gelegenheit, den Abstand zu ihm zu vergrößern, ja zu verabsolutieren. Die Flucht des Vaters scheint den Sohn endgültig ins Recht gesetzt zu haben. Der „Riss“, der nach Heiner Müllers Empfinden während der Nazi-Zeit zwischen ihm und seinem Vater Kurt entstanden war, dehnte sich zum Abgrund, zumindest politisch. In der schärfsten Abrechnung, der Erzählung „Der Vater“, geschrieben 1958, ediert jedoch erst 1977, im Todesjahr des Vaters, heißt es in eisiger Lakonie: „Er fand seinen Frieden in einer badischen Kleinstadt, Renten auszahlend an Arbeitermörder und die Witwen von Arbeitermördern.“ Diese Behauptung vom gefundenen Frieden ist reine Abwehr und gleicht einem ideologisch instrumentierten Verdrängungsversuch.

Erstaunlich auch, dass Heiner Müller bereits im Jahr 1958 derart konkret von der Arbeit seines Vaters im Westen wusste. Kurt Müller trat seinen Dienst beim Tübinger Regierungspräsidium nämlich erst am 2. Januar 1959 an und betreute dort im „Geschäftsteil D Wehrmachtsversorgung“ laut Personalakte „die Versorgungsempfänger aus der früheren kaiserlichen Armee“. Möglicherweise hat die Behörde ihm, dem einstigen Nazi-Gegner, die Betreuung von Versorgungsempfängern aus der Hitler-Wehrmacht taktvoll erspart, wie ein ehemaliger Behördenleiter vermutet.

Was die Übernahme des Vaters ins Beamtenverhältnis bedeutete, konnte Sohn Heiner in seiner Proletarierseligkeit kaum ermessen. Doch wer Kurt Müllers Personalakte liest, begreift es sofort: Von den Nazis 1933 aus dem Staatsdienst vertrieben, beantragte Müller in den Fünfzigerjahren, in seine Rechte als Beamter wiedereingesetzt zu werden. Das war im Rahmen der Wiedergutmachung durchaus vorgesehen. Nur dass Kurt Müller der Ansicht war, er hätte bei Nichtentlassung und friedlicheren Geschichtsverläufen mittlerweile einen Rang im gehobenen Dienst erreicht – was der Staat anders beurteilte. Mehr als zehn Jahre lang betrieb Müller die Wiederherstellung seiner beruflichen Rechte und Ehren, bevor er Mitte der Sechziger endlich in den gehobenen Dienst gelangte.

In seinem bittersten Brief an den baden-württembergischen Finanzminister, der seinen Aufstieg am wirkungsvollsten blockierte, schreibt er: „Es bedarf wohl kaum eines Beweises, dass die alten NS-Beamten in der Bundesrepublik wieder in den Besitz aller Beamtenrechte gelangt sind.“ Der Gerechtigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass Kurt Müller aus dem Landesinnenministerium sowie vom damaligen Tübinger Regierungspräsidenten Willi Birn Unterstützung erhielt. Viele achteten den Mann, der gegen zwei Diktaturen Widerstand geleistet hatte.

1966 wurde der Regierungsoberinspektor Kurt Müller durch einen Schlaganfall dienstunfähig, ein Jahr darauf in den Ruhestand versetzt. Von den Folgen der Krankheit, einer Lähmung, erholte er sich nicht mehr – man kann es seiner Handschrift ablesen. Zum Abschied forderten seine Kollegen aus dem Referat Versorgungswesen ihn auf, sich etwas zu wünschen. Der Dreiundsechzigjährige schrieb zurück, seine Kollegen möchten bitte unter drei Dingen auswählen: „1.) eine Mappe od. einen Band mit Bildern oder Kupferstichen von Tübingen, 2.) ein Zinnservice (Teller, Leuchter, Krug), 3.) eine vollständige Taschenbuchausgabe (DTV) von Marcel Proust, ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘. – Die Reihenfolge hat nichts zu bedeuten.“

KURT OESTERLE, Jahrgang 1955, taz-mag-Autor, freut sich, ausnahmsweise einmal einen demokratischen Vater vor einem totalitären Sohn schützen zu dürfen