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Archiv-Artikel

Die Muse der Rockmusik

„New York, New York“, „I remember you well in the Chelsea Hotel“… Von Lower East Side nach Long Island – keine Stadt wurde so oft besungen wie New York. The Big Apple wird gleich in hunderten Songs zitiert. Eine Spurensuche auf den Pfaden zeitgenössischer Pop- und Rockmusik

Under the boardwalk, down by the sea, on a blanket with my baby, is where I’ll be

VON JOHANNES BOOS

Über Long Island bringt der Flugkapitän den Jet ein letztes Mal auf Kurs. Aus den rechten Fenstern die Skyline von Manhattan. Dann setzt der Airbus sanft auf dem Boden des New Yorker Stadtteils Queens auf: Herzlich willkommen auf dem Flughafen John F. Kennedy! There’s a plane at JFK, to fly you back from far away, singen die Pet Shop Boys melancholisch in Home and dry. Ein „Airtrain“ verbindet die Terminals des Flughafens mit der nächstgelegenen U-Bahn-Station „Howard Beach/JFK Airport“.

Rund 700 „Songs about New York“ zählt die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Frank Sinatras New York, New York ist sicher der bekannteste aller New York-Songs. Ob Jazzmusik, Chartbreaker aus den 60ern oder Alternativ-Rock von heute – es gibt scheinbar keine relevanten Bands, die sich nicht mit New York beschäftigt hätten. Gruppen und Songs, die wie Manhattan Transfer oder New York, Rio, Tokyo einen Bezug zur Stadt nur im Bandnamen oder Titel tragen, sind noch nicht einmal eingerechnet. Eine Erkundungstour durch die Musikgeschichte New Yorks kann wenige Subway-Minuten vom Flughafen JFK entfernt beginnen: am längsten Stadtstrand der Vereinigten Staaten, denn der liegt in New York: Der legendäre Rockaway Beach der Ramones. Schon Dee Dee Ramone soll in den 70ern aus Manhattan heraus lieber per A-train oder Anhalter statt mit dem Bus zum Strand genommen sein: It’s not hard, not far to reach. We can hitch a ride to Rockaway Beach. Auch die Drifters singen in Under the boardwalk vom Strandleben in New York – von Coney Island, dem Vergnügungspark der einfachen Leute im Stadtteil Brooklyn. Der Boardwalk, es ist ein Holzsteg entlang des Strandes, wunderbar dafür geeignet, sich im Schatten darunter nicht nur am Meerblick zu berauschen: Under the boardwalk, down by the sea, on a blanket with my baby, is where I’ll be.

Ortswechsel. I remember you well in the Chelsea Hotel, you were talking so brave and so sweet, giving me head on the unmade bed, while the limousines wait in the street. Leonard Cohen setzte dem Chelsea Hotel ein musikalisches Denkmal. Noch heute lebt das Chelsea vom Charme des Künstlerhotels: Drei Viertel der Zimmer sind an Dauergäste vermietet, an Künstler und schräge Vögel, die ihre Zimmer zu Ateliers oder gar einem Frisörsalon umgebaut haben und – für New Yorker Verhältnisse – vergleichsweise günstig ein Dach über dem Kopf haben. Andy Warhol und Jimi Hendrix haben im Chelsea schon gewohnt, Punkrocker Sid Vicious soll hier im Herbst 1978 seine Lebensgefährtin Nancy Spungen erstochen haben. Auch Velvet Underground haben dem legendären Hotel zu musikalischem Weltruhm verholfen: Here’s room one fifteen, filled with sm queens. Magic marker row, you wonder just how high they go. Here they come now, see them run now, here they come now, Chelsea girls. Noch heute hängen in der Lobby und im Treppenhaus Bilder von Künstlern, die ihre Zimmermiete mit ihren Werken bezahlt haben. Über schlecht bis kaum schließende Türen muss man sich ebenso wenig wundern wie darüber, dass am einen Tag ein Filmteam, am nächsten Tag die Feuerwehr im Gebäude steht. Denn seit das Chelsea in diesem Sommer von der Hotelgruppe BD aufgekauft wurde, geht ein Aufschrei durch das Hotel. Der neue Eigentümer hat die Mietpreise für die Zimmer enorm angehoben und will die Räume lieber gutbetuchten Touristen als Künstlern überlassen. Es gab schon Bombenattrappen und wüste Drohungen.

Wer über New York singt, ist oft Wiederholungstäter. Nicht selten münden Kreativität und Leidenschaft für den „Big Apple“ in ganze Langspielalben. Die Handlung von „Tom’s Diner“ spielt in Tom’s Restaurant Ecke Broadway/112. Straße – es ist bei weitem nicht Suzanne Vegas einziger Song mit New-York-Bezug. Mit Crime & Beauty hat die Künstlerin in diesem Sommer ein Album mit elf Songs über ihr Lieblingsthema New York veröffentlicht, darunter Ludlow Street, den Namen entliehen einer Straße im Nightlifequartier an der Lower East Side. Die Ludlow Street ist die Heimat kleiner Cafés und Galerien, die erst gegen Abend richtig in Gang kommen. An der Ecke zur Houston Street liegt „Katz’s Delicatessen“, bekannt aus Harry und Sallys oscarreifer Orgasmusszene. Mittags sieht man Männer Tütensuppen schlürfend auf Treppenabsätzen oder vor heruntergelassenen Rollläden sitzen. Das Leben hier findet nachts statt. This time when I go back to Ludlow Street, I find each stoop and doorway’s incomplete without you there. Doch auch in diesem Stadtviertel ist der Wind der Veränderung zu spüren. Aus der eher kleinteiligen Bebauung ragen mittlerweile mehr als 20 Stockwerke hohe Neubauten mit sündhaft teuren Eigentumswohnungen in den Himmel. Der Bauträger verspricht „a new view of the Lower East Side“ – und es steht zu befürchten, dass dieser neue Blick auf das Arme-Leute-Viertel von Umsatz, Rendite und neuen Wohnblocks geprägt ist.

Was für den Tourismus in New York generell gilt, spiegelt sich auch in der Musik wider: New York, das ist in erster Linie Manhattan. Brooklyn, der ewige Zweitligist unter den Stadtteilen, wird deutlich weniger in Songtexten zitiert. Ausnahmen bestätigen die Regel, schließlich fahren die Brooklyn girls in Rod Stewards Downtown train auch wieder Richtung Manhattan. Überhaupt scheinen sich New Yorks „outer boroughs“ musikalisch in erster Linie über die Subway zu definieren. Schon Billy Strayhorn und später Duke Ellington hatten den Ratschlag Take the A-train, der die drei Stadtteile Manhattan, Brooklyn und Queens verbindet. They Might Be Giants erzählen in Token back to Brooklyn von einem verlorenen U-Bahn-Billet, und auch die Ataris gleiten durch den Untergrund: All I am is a body floating down-wind as the express train passes the local. It moves by just like a paper boat, although it weighs a million pounds.

Würde man New Yorks Lieder auf Verknüpfungspunkte hin untersuchen, man käme auf eine respektable Anzahl von Kreuzungen, Querverweisen und Berührungen. Manhattans Spring Street aus dem gleichnamigen Song der Folksängerin Dar Williams endet im Westen an der Varick Street, einer fünfspurigen Ausfallstraße – gesäumt von „Manhattan Mini Storage“-Lagerhäusern –, die bei Soul Coughings Janine Erwähnung findet: Varick Street and I drove south, with my hands on the wheel and your taste in my mouth, Janine. Die Spring Street trifft auch auf den Broadway (The Clash, Goo Goo Dolls), der wiederum im Stadtteil Noho von der Bleecker Street und diese von der Sullivan Street (Counting Crows) gekreuzt wird. Im Titel Slide erzählt Lunas Sänger Dean Wareham, wie Drogendealer direkt vor seiner Wohnungstüre in der Bleecker Street Crack verkaufen: Soho has the boots, Noho has the crack, New England has the foliage, but I’m not going back.

Das war Anfang der 90er-Jahre. Seither hat sich viel getan in Sachen Sicherheit. Wo vor 15 Jahren die Dealer standen, sind heute kleine Cafés mit leckeren Frühstück und 24-Stunden-Öffnungszeiten am Wochenende sowie teure Modegeschäfte. Bettler sieht man kaum, Drogendealer erst recht nicht. Die Fassaden der Häuser sind picobello herausgeputzt, der Boulevard nicht mehr dirty, wie Lou Reed einst sang. Dirty Boulevard, es ist einer von 14 Songs über die Stadt im legendären Album New York, in dem Reed Ende der 80er-Jahre nicht nur das Thema Kriminalität, sondern auch Aids und Religion auf die musikalische Tagesordnung seiner Liebeserklärung an New York setzte.

Eine solche brachte auch R.E.M.-Frontmann Michael Stipe zu Papier. Leaving New York entstand, als Stipe nach dem Start aus seinem kleinen Flugzeugfenster auf seine Lieblingsstadt schaute: It’s easier to leave than to be left behind, leaving was never my proud. Leaving New York, never easy, I saw the light fading out.