: Das Schweigen des Ziehvaters
Gestern begann in Bremen der Prozess gegen den Ziehvater des Kindes Kevin. Der Angeklagte verweigert die Aussage, manche BeobachterInnen haben ihr Urteil schon gefällt. Die Verteidiger wollen das gerichtsmedizinische Gutachten angreifen
Die Bremer Staatsanwaltschaft hatte den Ziehvater von Kevin ursprünglich wegen Mordes angeklagt. Jetzt muss er sich vor dem Landgericht Bremen aber wegen Totschlags verantworten. Die Kriterien für Mord stehen im Strafrechtsparagrafen 211: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“ Ein Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. In allen anderen Fällen einer vorsätzlichen Tötung handelt es sich um Totschlag laut Paragraf 212: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.“ TAZ/DPA
AUS BREMEN EIKEN BRUHN
Er ist nicht da. Zwar sitzt da ein Mann mit langen grauen Haaren in Strickjacke und Hemd auf der Anklagebank – aber ob Bernd K. im großen Schwurgerichtssaal des Bremer Landgerichts wirklich anwesend ist, muss man bezweifeln. Den zweijährigen Sohn seiner verstorbenen Freundin soll der 42-Jährige getötet haben. Seit gestern muss er sich wegen Totschlags verantworten.
Polizisten fanden die Leiche Kevins im Oktober 2006 im Kühlschrank von Bernd K. Der Junge ist laut einem gerichtsmedizinischen Gutachten an den Folgen schwerer körperlicher Misshandlung gestorben. Wann, wissen die Gutachter nicht genau, wahrscheinlich Ende April, Anfang Mai 2006. Weil der Fall den Bremer Behörden bis hin zum Bürgermeister bekannt war, versuchte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss das Versagen des Staates aufzuklären. Die meisten der 73 Zeugen schilderten Bernd K. als einen aggressiven, unberechenbaren Mann, einige wenige sagten, er sei liebevoll mit Kevin umgegangen. „Schauspielerische Fähigkeiten“ attestierten ihm daraufhin die drei Obmänner von SPD, CDU und Grünen. Einer von ihnen, der Ausschussvorsitzende Helmut Pflugradt von der CDU, war gestern im Gericht, um sich erstmals ein eigenes Bild zu machen. Sehen konnte er allerdings nicht viel. Nun verfolgen viele Angeklagte mehr oder weniger reglos das Geschehen. Doch bei Bernd K. regt sich gar kein Muskel im Gesicht. Er schaut noch nicht einmal starr. In krassem Gegensatz dazu stehen die Gesichter einiger Zuschauer: Empört sehen sie aus. Als ein Polizist schildert, Bernd K. habe bei seiner Festnahme „teilnahmslos“ gewirkt, schnaubt eine Frau vernehmlich durch die Nase aus. „Teilnahmslos, von wegen, das waren die Drogen“ zischt sie.
Dass Bernd K. wie seine verstorbene Freundin drogenabhängig war, verneint niemand. Ob die Drogen jedoch sein Verhalten in Gänze erklären können, ist offen. Der als Sachverständige beauftragte Psychiater Gunther Kruse konnte nur ein vorläufiges Urteil zur Schuldfähigkeit des Angeklagten erstellen, da Bernd K. auch ihm gegenüber nichts zu den Umständen der Tat gesagt hat. Eine verminderte Schuldfähigkeit kann derzeit jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, weitere Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung erhofft sich Kruse aus den Aussagen der Zeugen.
Geladen waren gestern zunächst nur zwei der fünf Polizisten und Polizistinnen, die Kevin in Bernd K.s Wohnung fanden. Auf Anordnung des Familiengerichts sollten sie Kevin in ein Heim bringen. „Die Herausnahme ist besonders eilig“ hatte die Familienrichterin zwar gemahnt, aber es dauerte noch einmal einen Tag, bis der Amtsvormund, der seit dem Tod der Mutter für Kevin das Sorgerecht hatte, ihn in Begleitung des Gerichtsvollziehers und der Polizei holte. Holen wollte. Im April hatten ihn Sozialarbeiter das letzte Mal lebend gesehen, den Sommer über hatten sie sich von K. mit Ausreden abspeisen lassen.
Mit Gewalt brachen die Polizisten schließlich am 10. Oktober vergangenen Jahres um 7.14 Uhr die Tür auf, schilderten sie. Dahinter habe sich ein kleiner Schrank befunden, der den Eintritt in die Wohnung erschwerte, sagt ein 35-jähriger Polizist. Anschließend habe er Bernd K. auf dem Bett fixiert und mit Handschellen gefesselt. Davon, dass Kevin tot sein könnte, seien sie zu dem Zeitpunkt nicht ausgegangen, sagt er. Wohl aber rechneten sie damit, auf Gegenwehr zu stoßen, befürchteten, dass Bernd K. sich oder Kevin etwas antun könne. Deshalb das gewaltsame Eindringen und die Fixierung. Doch Bernd K. blieb ruhig, erzählen sie, und dass sie ihn fragten, ob er das Datum wisse. „Er hat einen leicht verwirrten Eindruck gemacht“, sagt der Polizist, „irgend etwas stimmte nicht“. Auf die Frage nach dem Kind habe Bernd K. erst behauptet, es sei nicht in der Wohnung, bis er auf Nachfrage in einen Redefluss geriet und dabei sagte, man würde ihm ja doch nicht glauben. Und: „Er ist in der Küche.“ Nach dem Leichenfund habe er sich geweigert, einen Festnahmebericht zu unterschreiben, weil dort von „Mord“ die Rede war, erinnert sich der Zeuge.
Die Anwälte von Bernd K. wollen versuchen, das gerichtsmedizinische Gutachten anzugreifen. Sie glauben nachweisen zu können, dass Kevins Knochen krankhaft porös waren – und die 24 Brüche nicht auf Misshandlungen zurück zu führen sind. Außerdem halten sie die ermittelte Todesursache für unwahrscheinlich. Kevin soll an Herzversagen gestorben sein, ausgelöst durch einen Oberschenkelbruch, bei dem Fetttröpfchen aus dem Knochenmark in den Blutkreislauf gelangten.