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Archiv-Artikel

Ein endloser Strom von Gedanken

ESSAYFILM „Sans Soleil“ des Regisseurs Chris Marker ist eine Reflexion über das Funktionieren von Erinnerung in kinematografischer Form

Der perfekte Ausgangspunkt für weitere Expeditionen in ein einzigartiges Werk

VON EKKEHARD KNÖRER

Im kaum überschaubaren Archipel des Werks von Chris Marker ist „Sans Soleil“, „Ohne Sonne“, fraglos eine der Hauptinseln. Kaum überschaubar ist das Werk, weil es nirgends gesammelt vorliegt, weil die Film- und Videokopien in alle Winde verstreut sind, aber auch, weil es aus den unterschiedlichsten Formaten und Formen besteht, vom noblen 35-mm-Film bis zur CD-ROM und zur virtuellen Second-Life-Installation.

Marker war Essayist nicht nur in dem Sinn, dass man viele seiner Filme mangels eines besseren Worts am ehesten noch als filmische Essays bezeichnet. Er war Essayist auch darin, dass er immer wieder Neues probierte, sich an den unterschiedlichsten Formen versuchte; solchen, die sich weitgehend an die Regeln des Dokumentarischen halten; solchen, in denen die Gedanken das Dokument überwuchern; und solchen, die mit der Fiktion spielen wie sein Foto-Science-Fiction-Kurzfilm „La jetée“, aus dem Terry Gilliam in seinem Remake „Twelve Monkeys“ erst einen Blockbuster machte, bevor im letzten Jahr sogar eine Serie daraus entstand. Dem vor drei Jahren verstorbenen Marker hätte auch das sicher gefallen: Werke, die sich in unvorhersehbarer Weise bewegen, die Ableger zeugen, die sich verzweigen und an anderer Stelle wieder ansetzen, sind genau das, was er wollte.

„Ohne Sonne“ jedoch ist ein Essay in Reinform – wenn es das gäbe. Man bekommt, was dieser Film ist, nicht wirklich zu fassen, so schlangenhaft eilt er voran, so schnell ist er immer wieder woanders, als er eben noch war. Im Kern sicher ein Reisebericht aus Japan, der allerdings mit Bildern aus Island beginnt und auch schließt. Eine Frauenstimme berichtet von einem Mann, der ihr schreibt, und zwar sehr oft und sehr viel. Sie zitiert seine Beobachtungen, seine Gedanken, es ist viel, sehr viel Text, ein Strom, der nicht abreißt, eine Gedankenbewegung, die man nicht anhalten kann.

Es gibt aber auch nicht viele Filme mit einer so rasanten Folge von Bildern. Impressionen in großer Zahl aus Japan: von winkenden Katzen und Kaufhäusern und Fernsehbildschirmen und Stromkabeln in der Stadt und einer Bar in Shinjuku, und dann tauchen auch Bilder vom Papst auf, der demnächst Japan besucht. „Ich stelle mir vor, wie die Japaner binnen zwei Jahren eine effizientere und weniger teure Form des Katholizismus herausbringen.“ Sagt der Mann mit der Stimme der Frau, es ist im Fluss der Bilder und Kommentare eine Nebenbemerkung, wobei es eigentlich unmöglich ist, einen Unterschied zwischen Haupt- und Nebenbemerkungen zu erkennen.

Weil jedes Bild zählt, weil viele Gedanken und Motive wiederkehren – Katzen ebenso wie Eulen, Markers Fetischtiere. Etwas wie Leitmotive sind aber die Gedanken zur Zeit, zur Erinnerung und zum Vergessen, Gedanken zum Blick. Was wiederkehrt, ist etwa der kurze Blick einer Frau in Praia, Kap Verde, ein Blick in die Kamera des Erzählers, nicht länger als eines der 24 Bilder pro Sekunde, in denen das fotografische zum filmischen Bild wird. Zum japanischen Kerntext fügt sich diese Impression von den Kapverdischen Inseln, fügen sich andere Bilder aus Afrika, aus Guinea-Bissau etwa, nur per Assoziation. Marker war nicht zuletzt einer der wichtigsten Chronisten (und Romantiker und Melancholiker) der linken Revolutionen und der Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. „Warum sollte ein so kleines und so armes Land wie Guinea-Bissau die Welt interessieren? Weil sie getan haben, was sie konnten, sie haben sich befreit, sie haben die Portugiesen verjagt.“

Und dann geht es wieder zurück, nach Japan, in den Krieg, zu einem Bericht über eine Attacke der Amerikaner auf Okinawa, aber auch vorwärts in elektronisch verfremdete Bildwelten, die mehrfach wiederkehren und einem Mann namens Hayao und seinem Rechner zugeschrieben werden, aber auch dieser Hayao ist ein Alter Ego Markers, des Autors, der sich entzieht, von dem es lange so gut wie keine Bilder gab, des Essayisten, der die gewagtesten Linien in Zeit und Raum zieht, des Weltreisenden der Blicke, des Poeten, der endlos neugierig war, ohne eine große Sache daraus zu machen. In keinem einzelnen seiner Filme hat man ihn ganz, aber „Ohne Sonne“ ist der perfekte Ausgangspunkt für weitere Expeditionen in ein einzigartiges Werk.

■ „Sans Soleil“ läuft in der Reihe „Magical History Tour“ am 22. und 26. 2. um 20 Uhr im Arsenal