24 stunden spreebogen, folge 19
: Von 18 bis 19 Uhr

Ein stahlgrauer Himmel hing zu Beginn dieser Stunde tief über dem Berliner Regierungsviertel. Dann sah es zunächst so aus, als würde ihm ganz langsam das Licht entzogen – als würde es herausgesaugt. Das Graue verschwand allmählich, so wie die Luft aus einem Reifen verschwindet, der ein kleines Loch hat. Ab etwa 18.15 Uhr kippte dann der Vorgang. Nun hatte man nicht allein den Eindruck, dass etwas verschwindet, sondern auch, dass etwas hinzukommt – als ob irgendjemand Schwärze in den Himmel hineingießen würde. Allmählich saugte er sich voll damit wie ein Schwamm. Bis er gegen 18.30 Uhr prall vollgesogen mit dieser Dunkelheit war, die ihn von da an den Rest dieser Stunde begleiten sollte und weiter noch die ganze Nacht.

Dunkelheit also. Nun beginnt die Zeit der Lichterspiele wieder, so wie zu Beginn dieser Rundgänge im Frühjahr, als es ja noch dunkel war. Was sich in dieser Stunde wirklich eindringlich studieren ließ: Wie groß der Unterschied zwischen normalem Sitzungslicht und Kameralicht tatsächlich ist. Ziemlich groß! So groß wie zwischen Taxiquittung und Dienstwagen mit Chauffeur und Sicherheitsbeamten. Oder wie zwischen Kanzleramt vorderes Gebäudeteil Büro im Erdgeschoss und einem Schreibtisch in der Nähe des zentralen Führungskubus.

Jedenfalls: Sowohl im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus als auch im Paul-Löbe-Haus finden zu dieser Stunde gerade Ausschusssitzungen statt. Locker gefüllte Besuchertribünen, auf der unteren Ebene Anzugträger im Rund, man kommt als Fußgänger nah heran und sieht die Stuhllehnen der Abgeordneten und ihre Rücken. Gemütlich glimmt aus der einen Sitzung das Licht nach draußen, fast wie Teestunde und Plätzchenessen sieht das in dieser herbstlichen Zeit aus.

Bei der anderen Sitzung, in einem Saal gerade einmal 50 Meter entfernt, sind aber die Kameras dabei, und das ist ein Unterschied ums Ganze. In grellen Schein gehüllt ist die Szenerie, das Licht gleißt noch mit Gewalt durch die großen Fenster hinaus bis auf den Bürgersteig. Auch die Abgeordneten scheinen sich anders zu bewegen, zackiger, schärfer, kontrollierter. Die Kameras schaufeln Bilder aus der Machtfabrik des deutschen Regierungssitzes in die Welt hinaus – und zugleich strahlendes Licht und Aufmerksamkeit hinein. Wie teilnehmend diese beobachtenden Objektive sind, sieht man auf den ersten Blick, sobald man bei so einer abendlichen Ausschusssitzung durchs Fenster guckt. Alles ist anders, wenn nur dieses helle Scheinwerferlicht im Spiel ist.

Dann geht man kurz um die Ecke und sieht noch an- dere hell leuchtende Gestalten. Junge entschlossene Gesichter, die von einem überdimensionierten Fassadenplakat herabgucken, das an der Charité angebracht ist: „Heroes“ steht darüber. Werbung für eine neue Serie auf RTL 2. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 19 bis 20 Uhr: am 3. 11.