der verkehrsguru hans mondermann erklärt, wie verkehrsunfälle der vergangenheit angehören
: Radikaler Kahlschlag im Schilderwald

Wenn man beim Radfahren auf die Nase fliegt, hat das in der Regel zwei Auswirkungen. Erstens: Es tut weh. Zweitens: Das nächste Mal passt man besser auf. Um das in einem Powerpoint-Vortrag zu lernen, haben die Grünen den holländischen Verkehrsguru Hans Mondermann am Freitagabend ins Abgeordnetenhaus geladen. Der sagt nämlich, es gebe deshalb so viele Unfälle, weil wir nicht auf die anderen Menschen aufpassen, sondern blind Schildern, Ampeln und Straßenmarkierungen vertrauen: „Sicherheit ist Wahrnehmung von Risiko. Keine Sicherheit ohne Risiko.“ Deshalb müsse man den ganzen Schilderwald abholzen und auf der Straße nur noch seinen Augen trauen.

Aber was heißt da Straße! „Shared Space“ ist das Stichwort. Die Orte, an denen wir uns bewegen, sollen geteilte Räume sein – im Sinne von „gemeinsam“, nicht von „unterschieden“. Autos, Radler und Fußgänger sollen sich unterwegs begegnen, ansehen und kommunizieren. Hans Mondermann zieht den Vergleich mit einer Schlittschuhfläche: Es gibt dort keine Fahrbahnen, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Vorfahrtsregelungen, weil jeder auf den anderen achtgibt, der Schnellere auf den Langsamen, der Große auf den Kleinen.

Seit rund 30 Jahren entwickelt Mondermann, ein Verkehrsingenieur aus der nordholländischen 50.000 Einwohnerstadt Drachten, seine Vision des öffentlichen Raumes, in der Menschen auf Menschen treffen statt auf Fahrer. In seiner Heimatstadt hat er sein Konzept erprobt – mit Erfolg, wie er betont: Die Unfälle seien um 60 Prozent zurückgegangen.

Mondermann hat klare Vorstellungen, gute Argumente und eine gesellschaftliche Vision. Er ist einer der wenigen Stars unter kommunalen Verkehrspolitikern, unterwegs von Vortrag zu Vortrag – und ziemlich stolz darauf: „Ich bin nur ein Verkehrsingenieur aus Friesland. Was ist los mit den Leuten, dass sie sich alle um mich reißen?“

Claudia Hämmerling weiß das. Als die verkehrspolitische Sprecherin der Grünen Mondermann auf einem Vortrag in Hamburg hörte, war sie so begeistert, dass sie ihn nach Berlin einlud. Mit „Shared Space“ „halte man einen Schlüssel in der Hand, um den Verkehr in Berlin freundlicher zu machen“, sagt sie. Das Argument, dieser funktioniere nur im kleinen Maßstab, aber nicht in einer Großstadt wie Berlin, wies sie zurück.

Hämmerlings Vorgänger Michael Cramer, inzwischen Europa-Parlamentarier, nutzte die Gelegenheit, die Grünen als Bruderpartei im Geiste darzustellen. Er verwies auf die Einführung von Radwegen, Tempo-30-Zonen und „Rechts vor links“-Verkehr in Berlin zu Zeiten der rot-grünen Landesregierung 1989/90. Ihm entging, dass das mit Mondermanns Vorstellungen gar nichts zu tun hat. Der will gerade keine getrennten Wege, keine Vorfahrtsregeln und auch kein Tempolimit.

Im Gegenteil: Die Idee ist, dass der Verkehrsteilnehmer selbst beurteilt, welche Geschwindigkeit angemessen ist. Es sei alles eine Frage der richtigen Anlage, so Mondermann. Gestalte man die „Shared Spaces“ offen, ohne Markierungen, ohne sichtbare Begrenzungen zum Fußgängerweg, fahre jeder automatisch langsamer. „Das Umfeld einer Straße kann eine Menge Informationen bieten; wir haben unsere Straßen anonymisiert – bei der Verwaltung hört das Denken neben der grauen Fahrbahn auf.“

Das Publikum im Abgeordnetenhaus ist begeistert. Fragen, wie sich das Berliner Straßenbahnnetz, die Stadtautobahn oder der Parkdruck in Marzahn in das Modell einfügen, beantwortet der Holländer fast wortgleich: kein Problem. Parkplätze seien das Problem der Verkehrsteilnehmer, nicht der Verwaltung. Gelächter. Applaus.

SVEN BEHRISCH