: Man muss jeden Ton lieben
MYSTIK UND MUSIK In Neuhardenberg konnte man den estnischen Komponisten Arvo Pärt am Wochenende gleich zweimal hören: in einem Konzert seine Musik und im Gespräch mit Bundestagspräsident Norbert Lammert
VON TIM CASPAR BOEHME
Er hat etwas von einem Büßermönch. Sein wild wuchernder Bart und die seit Jahrzehnten markant hervortretende Glatze des estnischen Komponisten Arvo Pärt umrahmen ein scharf geschnittenes Asketengesicht, das fremd und freundlich zugleich blickt. Wenn er spricht, verdoppelt sich dieser Eindruck. Man hört einen Gläubigen, der nicht predigen will, sondern bescheiden seinen Dienst verrichtet. Ganz wie in seiner Musik. In Neuhardenberg war der öffentlichkeitsscheue Pärt am vergangenen Wochenende sowohl mit seinen Werken als auch in seinen Worten zugegen. Beides war auf seine Weise unvergesslich.
Dabei wäre es ziemlich einfach, Arvo Pärt nicht zu mögen. Der 76-Jährige ist, wenn man so will, der Popstar unter den zeitgenössischen Komponisten, mit zahllosen Aufführungen rund um die Welt. Auf seine Musik können sich fast alle einigen, die es halbwegs harmonisch mögen und für Spirituelles empfänglich sind. Pärt schreibt Musik von scheinbarer Einfachheit mit denkbar niedriger Zugangsschwelle.
Man wird Pärt aber nicht gerecht, wenn man ihn als massentauglichen Kuschelklassiker loswerden möchte. Für Avantgarde-Kreise mag seine Musik auch heute noch eine Provokation sein, weil sie sich hemmungslos zu Schönheit und Übersichtlichkeit bekennt. Tatsächlich hat Pärts Konsequenz etwas Provokatives. Nur will er überhaupt niemanden mit seinen Kompositionen herausfordern.
Die Auswahl an älteren und neueren Stücken, in der Schinkel-Kirche Neuhardenberg vom virtuos homogenen Cello-Ensemble Cello8ctet Amsterdam dargeboten, unterstrich Pärts demütige Haltung mit souverän zurückhaltenden Interpretationen. Sein sogenannter Tintinnabuli-Stil, bei dem zwei Töne – in Erinnerung an Glockentöne – zusammen erklingen, kommt weitgehend ohne pompöse Gesten aus. Es waren besonders die stillen, ganz in sich ruhenden Klänge, bei denen ideologischer Widerstand zwecklos wurde. Je strenger, desto ergreifender.
Pärt ist dabei kein selbstgenügsamer Ästhet, sondern ein Musiker, der für seine Überzeugung im damals sowjetischen Estland reichlich Kritik und Repressalien einstecken musste. Als er sich in den Sechzigern der Zwölftonmusik zuwandte, bekam er prompt Ärger, weil dies nicht konform mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus war. Später fand er zu einem sakral geprägten Stil, in dem Gregorianik und Renaissancemusik auf neue Weise zusammengedacht werden. Die religiösen Inhalte – wie etwa die Streicherbearbeitung eines „Credo“ aus der lateinischen Messe – führten dazu, dass man ihm 1980 schließlich nahelegte, das Land zu verlassen. Dreißig Jahre lebte er darauf unauffällig in Berlin-Lichterfelde, bis er 2010 wieder nach Estland zog. Dort entsteht jetzt ein Arvo-Pärt-Archiv.
Dass man Pärt nicht nur in seiner Musik, sondern auch als Person schwer in den Griff bekommt, wurde am Sonntag im „Gespräch“ des Komponisten mit Bundestagspräsident Norbert Lammert deutlich. Die Musikwissenschaftlerin Tatjana Rexroth hatte sichtbare Not, den wortkargen Pärt aus der Reserve zu locken. Auf die Frage, wie man als Komponist seine Individualität behält, beschied er sie knapp: „Das hat keinen Sinn, darüber nachzudenken.“ Auch zum direkten Austausch mit Lammert, ein großer Bewunderer des Komponisten, kam es nicht. Immerhin durfte Lammert einige Einsichten zum Verhältnis von Komponisten und Politikern beitragen – wie die Beobachtung, dass beide für die Verwirklichung ihrer Absichten auf Mitstreiter angewiesen seien. An anderer Stelle insistierte Lammert darauf, dass Kunst potenziell hochpolitisch sei. Bei Pärt etwa wurde das mit der Zensur seiner Werke manifest, die wegen ihres spirituellen Charakters beim Publikum bestens ankamen, weshalb die politische Führung sie sofort aus dem Verkehr zog. Hier sei ein Bedürfnis getroffen und ein Ventil geöffnet worden: „Würde es diese inspirierende Blutzufuhr nicht geben, würden Gesellschaften an ihrer eigenen Routine ersticken.“
Pärt selbst gewährte eine überraschende Einsicht in sein Werk, als er von seiner schweren Krise als Komponist erzählte, einer Phase nach 1968, in der er auf der Suche nach einem neuen Weg jenseits der Avantgarde war und lange zu keiner Lösung fand. Eines Tages sei er vor seinem Haus einem Straßenfeger begegnet. Dem habe er die Frage gestellt: „Wie soll ein Komponist Musik schreiben?“ Die Antwort des Mannes: „Vielleicht – muss man jeden einzelnen Ton lieben.“