: Die Gestalterin
PORTRÄT Als Kind musste sie selbst flüchten, heute sammelt Olga Zakrevska Spenden für Geflüchtete – aber auch für die Kämpfer in der Ostukraine. Die Geschichte einer Maidan-Aktivistin
KIEW taz | Olga Zakrevska war gerade einmal zwei Wochen als alt, als ihre Mutter mit ihr auf dem Arm aus dem Haus rannte und sich Richtung Bahnhof aufmachte. Wenige Stunden später traf die Familie in Kiew ein.
Am 26. April 1986, zerstörte eine Explosion an der Arbeitsstelle ihres Vaters, dem Atomkraftwerk Tschernobyl, alles, was die Familie in der Atomstadt Pripjat bisher gehabt hatte. Nur mit ihren Kleidern auf dem Leib, der kleinen Olga auf dem Arm und dem sieben Jahre älteren Bruder Timofei an der Hand trafen die Eltern in Kiew ein. All das kennt Olga nur aus Erzählungen. Nur die Tränen ihres Bruders sind ihr noch gewahr, der es nicht fassen konnte, dass keines der anderen Kinder mit ihm spielen wollte, nur weil er aus der Region bei Tschernobyl gekommen war.
Olga Zakrevska studierte Design, machte sich anschließend mit einem eigenen Fotostudio selbstständig. Bei ihrer Arbeit konnte sie machen, was wenigen möglich war: ohne Vorgesetzte und Vorschriften gestalten. Dass sie irgendwann einen russischen Geschäftsmann heiratete, war in diesen Zeiten nicht einmal erwähnenswert. Doch ihre Freiheit, ihre Kreativität und ihr Gestaltungswille endeten immer an der Schwelle ihres Fotoateliers. Davor war die Welt korrupt und nicht veränderbar. Wieder ergriff sie das Gefühl von Ohnmacht, das die Fotografin schon aus ihrer Kindheit kannte. „Wir hatten kein funktionierendes Rechtssystem, die medizinische Versorgung lag im Argen. Janukowitschs Machtantritt hat mich paralysiert“, sagt Zakrevska heute.
Der Winter um die Jahreswende 2013 und 2014 war für sie wie ein Frühling. Damals habe sie fast ihre gesamte Freizeit auf dem Maidan verbracht. „Bei Temperaturen von minus 20 Grad standen wir auf dem Maidan. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gespürt, dass das, was ich gesellschaftlich einbringe, etwas bewegt. Ich habe erlebt, wie neben mir meine Freunde, meine Nachbarn und meine Verwandten aus ihrer Lethargie aufgewacht sind. Und zum ersten Mal hatten Polizisten und Politiker Respekt vor mir.“
Auch ein Jahr nach dem Maidan, so die Aktivistin, bereue sie nicht, mit dabei gewesen zu sein. Doch der Preis sei hoch, Putins Rache schrecklich gewesen. Putin sei für den Krieg in den Gebieten Lugansk und Donezk verantwortlich. Das ganze Gerede von den Faschisten, die die Macht in der Ukraine ergriffen haben sollen, könne sie nicht verstehen. Die Ukrainer seien ein friedliebendes und tolerantes Volk, würden keine Eroberungskriege führen. Sie sei mit einem Russen verheiratet, auf der Bühne des Maidan hätten immer wieder katholische, orthodoxe, muslimische und jüdische Geistliche gemeinsam gebetet. Jetzt räche sich, dass man sich eigentlich nie so richtig für das interessiert habe, was Putin in Tschetschenien, Abchasien oder Transnistrien angerichtet habe.
Auf ein Ergebnis des Maidan sei sie besonders stolz: die Solidarität. Auf dem Maidan habe man gelernt, sich gegenseitig zu beschützen, Verletzten beizustehen. Viele der Freiwilligen des Maidan sind wieder als Freiwillige unterwegs, unterstützen die Kämpfer im Osten. Und wieder tun sie dies unter Einsatz ihres Lebens, bringen den Kämpfern im Kugelhagel Verpflegung, Medikamente.
Olga Zakrevska ist in Kiew geblieben, betreut Flüchtlinge, sammelt für diese Kleidung und Geld. Auch ukrainische Soldaten unterstützt sie und sammelt für deren Behandlung und für deren Schutzausrüstung.
Zakrevska habe große Angst um ihren Neffen, der im Mai zu den in der Ostukraine kämpfenden Einheiten einberufen worden sei. Die gesamte Verwandtschaft habe für einen Helm und warme Kleidung für ihn gesammelt.
Ohne die Hilfe der Freiwilligen wäre der Staat mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. „Was die Flüchtlinge heute erleben“, sagt Zakrevska, „ist schlimmer als Pripjat.“BERNHARD CLASEN