Wenn Männer weinen … muss Oscar-Nacht sein

ACADEMY AWARDS In Ermangelung des gewohnten überbordenden Pathos wie des gefälligen Humors kamen die politischen Botschaften des Abends plötzlich voll zur Wirkung. Dazu passend wurde mit dem Oscar für „Citizenfour“ letztlich vor allem Edward Snowden geehrt

Als Erste störte Patricia Arquette die gepflegte Langeweile und stürmte im Aktivisten-Modus auf die Bühne, um ihren Oscar den Frauen zu widmen

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Man kann gegen die Oscars eine Menge vorbringen: Die generelle Seichtigkeit der Veranstaltung, dass weder die wahre Filmkunst noch das echte Publikumskino geehrt wird, sondern nur der gut gemeinte, „ernsthafte“ Unterhaltungsfilm. Man steht mit dieser Art von Kritik in jedem Fall auf der richtigen Seite. Andererseits aber ist diese Nichtigkeitsveranstaltung, bei der gewissermaßen eine Handvoll Millionäre Goldstatuetten unter sich verteilt, Brotkrumen an ein paar Außenseiter mit einbegriffen, zunehmend zum zentralen Aufhänger für Fragen der gesellschaftlichen Repräsentation geworden. Nur Cinephile können alle acht Filme aufzählen, die in in der Hauptkategorie „Best Picture“ nominiert waren. Dass im Ganzen „zu wenig Schwarze“ nominiert wurden, ist dagegen Allgemeinwissen.

Der Auftaktscherz des diesjährigen Oscar-Hosts Neil Patrick Harris – „Tonight we honor Hollywood’s best and whitest — sorry — brightest“, war ein schöner Beleg für den tieferen Sinn der demonstrativen Oberflächlichkeit des Verleihungsabends.

Damit hatte sich der Witz von Harris aber auch schon erschöpft – sein Auftritt, dem viele Fans des schwulen Alleskönners mit großen Erwartungen entgegengesehen hatten, gilt allgemein als Reinfall. Aber wie so oft machte das Scheitern plötzlich ganz andere Dinge sichtbar. Die große amerikanische Unterhaltungskunst versagte darin, das zu tun, was sie so groß macht, nämlich seriöse Anliegen entweder durch Pathos zu verwässern oder durch gefälligen Humor ihres Gewichts zu berauben: Und plötzlich bekamen die politischen Bekenntnisse der Dankesreden jene Resonanz, die von diesem, dem 87. Oscar-Abend, am meisten im Gedächtnis bleibt.

Als Erste störte Patricia Arquette die gepflegte Langeweile. Aufgerufen, den Oscar als beste Nebendarstellerin für ihr messerscharfes Porträt einer Alleinerziehenden in Richard Linklaters „Boyhood“ entgegenzunehmen, stürmte sie im Aktivisten-Modus auf die Bühne: in der einen Hand den Rocksaum ihres Abendkleids, in der anderen die Lesebrille. Der Rede, die sie vom mitgebrachten Zettel ablas, hörte man förmlich noch den Hall des Badezimmers an, als Arquette ihren Oscar den Frauen widmete, die die „Steuerzahler und Bürger dieser Nation“ auf die Welt gebracht hätten, und dazu aufrief, für Frauenrechte und gleiche Löhne zu kämpfen. Forderungen, die Meryl Streep aus ihrem Sitz rissen und Jennifer Lopez zum Johlen brachten.

Mit ganz anderen, aber ebenso herzhaft eigensinnigen Tönen überraschte Drehbuchautor Graham Moore, als er seinen Oscar fürs beste adaptierte Drehbuch zum Film „The Imitation Game“ annahm. Der 33-Jährige erzählte, er habe mit 16 Selbstmord begehen wollen, und wow, nun stünde er hier. Seinen Sieg verwandelte er in eine Ermutigung an alle ausgegrenzten und entfremdeten Teenager: „Stay weird, stay different!“

Gestandene Männer wie Chris Pine und David Oyelowo zum Weinen brachte schließlich der Auftritt der Musiker Common und John Legend, die ihren nominierten Filmsong „Glory“ aus dem Martin-Luther-Biopic „Selma“ darboten. Twitter war ihr Zeuge. Als die Musiker wenig später ihren verdienten Oscar entgegennahmen und dazu eine „Der Kampf muss weitergehen!“-Rede hielten, in dem sie weder die Frauen noch die Schwulen vergaßen und außerdem das unangenehme Thema der US-amerikanischen Inhaftierungsrate berührten, hielt es wiederum Chris Pine nicht länger auf seinem Sitz und verführte den Saal so zu einer stehenden Ovation für ein ansonsten eher unpopuläres Anliegen.

Wie angestiftet von solchen Bekenntnissen schwang sich zum Schluss, es war bereits sein dritter Oscar an diesem Abend, auch der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzalez Iñárritu zu mehr auf, als Angehörigen, Mitarbeitern und Geldgebern zu danken. Nach den Auszeichnungen fürs Drehbuch und die beste Regie hielt Iñárritu für seinen Film „Birdman“ den Oscar für den besten Film in den Händen und krönte die Veranstaltung mit dem „den Mexikanern in Mexiko“ gewidmeten Wunsch für eine Regierung, „die wir verdienen“, und der „den in den Staaten lebenden Mexikanern“ gewidmeten Hoffnung auf respektvolle Behandlung.

Und die Vergabe als solche? Nun, wie im Geiste dieser Reden für Recht und Gleichheit zeigte sich auch die Oscar-Verteilung ungewohnt demokratisch: Laura Poitras’ Snowden-Dokumentation „Citizenfour“ erhielt einen. Jeder der „Best Picture“-nominierten Filme erhielt mindestens einen. Nach „Birdman“ war „Grand Budapest Hotel“ mit vier Oscars für Kostüm, Make-up, Ausstattung, und Musik lächelnder Zweiter, „Boyhood“ mit dem einen Oscar für Patricia Arquette dagegen der große Verlierer. Aber wo Arquette gewinnt, darf man das ignorieren. Ich sage nur: Lesebrille im Anschlag halten!

Siehe auch Seite 18