: Orbán ohne Zweidrittelmehrheit
UNGARN Der unabhängige Kandidat Zoltán Kész entscheidet eine Nachwahl in Veszprém für sich. Die Fidesz-Regierung redet sich mit einer geringen Wahlbeteiligung heraus
TAGESZEITUNG „MAGYAR NEMZET“
VON RALF LEONHARD
WIEN taz | Veszprém hat gewählt und Viktor Orbán hat verloren. Erstmals seit seinem erdrutschartigen Wahlsieg im April 2010 hat der machtbewusste Premier am Sonntag eine Schlappe einstecken müssen. Die Nachwahl im westungarischen Wahlkreis Veszprém hätte kaum viel Aufsehen erregt, wenn es nicht um das Mandat gegangen wäre, das die knappe Zweidrittelmehrheit der regierenden Fidesz/KDNP im Parlament absicherte. Den Sitz im Parlament nimmt jetzt der Unabhängige Zoltán Kész ein. Er setzte sich mit über 43 Prozent der Stimmen deutlich gegenüber dem Regierungskandidaten Lájos Némedi durch.
Die Nachwahl war nötig geworden, weil der Mandatsinhaber Tibor Navracsics als EU-Kommissar für Bildung, Kultur und Jugend nach Brüssel geschickt wurde. Sein Abgang eröffnete der Opposition die Chance, die wachsende Proteststimmung gegen die autoritär auftretende Regierung zu nutzen. Die sozialdemokratische MSZP einigte sich mit der linksliberalen Bürgerpartei Gemeinsam 2014 und der rechtsliberalen Bewegung für ein modernes Ungarn (Moma) auf Kész. Die grüne LMP entschied sich für einen Alleingang, weil ihr Kész zu marktliberal ist. Dafür wurde ihr vorgeworfen, die Opposition zu schwächen.
Kész wurde 2014 vom Atlas Netzwerk, einer neoliberalen NGO mit Sitz in Washington D. C., zum „Liberty Entrepreneur of the Year“ gewählt. Er hat in den 1990er Jahren in den USA studiert und amerikanische Geschichte an einer Highschool in den USA unterrichtet. In Ungarn gründete er die Free Market Foundation. Diese fördert über eine Bürgerplattform die Wahrnehmung des Wahlrechts und engagiert sich gegen in Ungarn wachsenden Antisemitismus und Rassismus. Allerdings ist Kész auch mit befremdlichen Vorschlägen aufgefallen. So regte er an, nur Steuerzahler mit dem Wahlrecht auszustatten.
Zwei Drittel der Wähler des 25 Städte und Dörfer umfassenden Wahlkreises leben in der 60.000-Einwohner-Stadt Veszprém, wo die Sympathien für den unabhängigen Kandidaten besonders groß waren. Der deutliche Wahlsieg des Oppositionellen überraschte dennoch, weil in einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Umfrage der eigene Kandidat vorn lag. Die Regierung spielte die Schlappe erwartungsgemäß herunter und verwies auf die niedrige Wahlbeteiligung von 45 Prozent.
„Auch wenn sie von nun an tatsächlich keine Zweidrittelmehrheit mehr haben, so regieren sie immer noch mit einer beispiellosen Mehrheit im Parlament“, schrieb die regierungsnahe Budapester Tageszeitung Magyar Nemzet. So sehen es auch Fidesz-Sprecher. Die großen Reformvorhaben seien alle erledigt. Doch in Fidesz regen sich auch Stimmen, die den Dämpfer als Signal sehen.
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