Ein Bus voller Dichter

Scherben, Poesie, Zwittertöne: Unter dem Titel „Latinale“ fand im Instituto Cervantes das „Mobile lateinamerikanische Poesiefestival“ statt, auf dem sechs junge Lyriker ihre Produktion vorstellten

VON MANUEL KARASEK

Latinale ist ein schöner Name für ein Festival, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die unbekannten Lyriker der jungen Generation Lateinamerikas zu präsentieren. Der Untertitel lautet „Mobiles lateinamerikanisches Poesiefestival“ – und ein kubistisch anmutender Alligator mit Rädern unterm flachen Bauch dient als Logo, was auf zweierlei verweist: Zum einen reisen die Dichter gemeinsam in einem Bus durch Deutschland und machen Station in Städten wie Köln, Leipzig, Hamburg, Potsdam und Berlin. Zum anderen ist der Bus, genauer der Überlandbus, auch das meistbenutzte Transportmittel auf dem Subkontinent.

Am Mittwoch fand im „Instituto Cervantes“ in der Nähe des Hackeschen Marktes eine der vielen Lesungen statt, auf der sechs unbekannte junge Südamerikaner unter dem Motto „Scherben, Poesie, Zwittertöne“ ihre lyrische Produktion vorstellten. Die Mexikanerin Amaranta Caballero las beispielsweise Gedichte vor, in denen es um das kulturelle Unbehagen der Südamerikaner im reichen Nordamerika ging, ein ziemlich heikles Thema, das beim ersten Hören etwas ungeschickt in Versform gefasst zu sein schien. Auf einer Leinwand konnte man die deutsche Übersetzung verfolgen.

Eine der Organisatoren des Projektes, Rike Bolte, sagte zu Beginn der Veranstaltung, dass der politische Linksruck der letzten Jahre in Lateinamerika auch die Perspektive der Dichtung auf den sozialen Wandel verändert habe. Spürbar wurde das im Folgenden vielleicht, als die Bolivianerin Jessica Freudenthal erklärte, sie sei in Spanien geboren, dann aber zweimal wütend betonte, das sei nur Zufall! Womöglich zeigen sich hier die Erfahrung der Fremdenfeindlichkeit und die Nachwehen des Kolonialismus, die Lateinamerikaner in Spanien erdulden müssen. Keinen ersichtlichen Grund gab es für die Selbstbezogenheit des Chilenen Montecinos, der wortlos ein Stück Wäsche in einem kleinen Plastikzuber minutenlang schaumig wusch. Dann folgte ein Gedichtvortrag, in dem das Wort Fleck im Mittelpunkt stand, was alles in allem etwas provinziell wirkte. Hier zeigte sich, was auch sonst im neuen deutschen Verhältnis zur jungen südamerikanischen Literatur zu beobachist: Selbst prominente Verlage wie der Berlin Verlag oder Suhrkamp glänzten in den letzten Jahren zum Teil durch eine unglückliche Auswahl von Lyrik. Der legendäre lateinamerikanische Boom der Sechziger war ja ein Ergebnis eines sicheren Geschmacks von Scouts, Literaturagenten und Lektoren.

Es aber auch anders: Ein Lichtblick an diesem Abend war der Argentinier Damian Rios, der die spielerische Gestaltung der freien Versform auf ganz eigenwillige Art beherrschte, und auch die deutsche Übersetzung weckte durch die ungewöhnliche Handhabung von Form und Sprache Interesse. Fast alle Autoren nutzten wie Rios die freie Versform – und die birgt einen großen Nachteil: Die Dichtersprache ist immer in Gefahr, die Disziplin zu verlieren. Aber kann man das überhaupt so schnell beurteilen?

Die Lyrik, nimmt man Oral Poetry mal beiseite, ist eine sehr stille und zurückgezogene Kunst. Lyriklesungen sind daher oftmals schwierig. Lyrik hängt von den Stimmungen der Rezipienten viel stärker ab als andere literarische Gattungen. So gewann man beim bloßen Hören etwa den Eindruck, dass der aus Peru stammende Miguel Ildefonso sich in übertriebenes Pathos verlor, was sich allerdings beim Lesen seiner Gedichte schnell als völlig falsch herausstellte. Es hilft in diesem Fall ein Blick ins Netz: Auf dem „Latin.log“, der von den Organisatoren der Latinale betrieben wird, wird jede Woche ein unbekannter Dichter mit einem Gedicht samt deutscher Übersetzung vorgestellt.

Hier zeigt sich dann, dass Ildefonso wie der Argentinier Damian Rios und andere schöne, narrative Elemente in ihren Gedichten haben. Auch Caballeros Gedichte lesen sich weitaus besser, und dann erkennt man plötzlich die gekonnte Struktur. Leider werden Gedichte in der Regel von ihren Verfassern vorgetragen, was nicht immer eine glückliche Kombination ist.

Oft bleibt man beim Hören erst einmal ratlos zurück. Ein schönes Beispiel ist Ildefonsos Gedicht „Jose Maria“. Was der deutsche Leser vermutlich nicht weiß, ist, dass das Gedicht sich auf den Quechua-Dichter Jose Maria Arguedas bezieht. Quechua ist die Sprache der peruanischen Indianer. Und Arguedas war unter den Quechua-Dichtern des 20. Jahrhunderts der bedeutendste – eben das erschließt sich aus dem Gedicht von Ildefonso. Das lange Poem beschreibt in sehr schönen, elegischen Bildern, wie Argueda vom Land in die Stadt reist. Es ist seine letzte Reise vor dem Selbstmord. Aber trotz aller – für sich genommen ohnehin spannnenden –Probleme des Formats tut die Organisation der Latinale etwas sehr Richtiges: Sie streut die größtmögliche Anzahl an lateinamerikanischen Talenten aus. Und dann sieht man eben weiter.

Programm: www.latinale.de