: Der Wissenschaftsstaat
LÄNDERLEXIKON Im Cern suchen sie das Urteilchen, forschen an dunkler Materie und finden nebenbei das WWW
AUS DEM CERN MARIA ROSSBAUER
Lage:
Schon das Betreten des Cern ist ein Abenteuer. In einem grauen, eiförmigen Gebäude mit James-Bond-Film-Optik muss man dem Pförtner glaubwürdig machen, hier mit einem Mitarbeiter verabredet zu sein, und seinen Ausweis vorzeigen; erst dann gibt es den befristeten Aufenthaltspass. Das Cern hat einen extraterritorialen Status – es ist wie ein eigener Staat unabhängig, und auch nicht den Gerichten anderer Länder unterworfen. Ähnlich wie das UN-Hauptquartier in New York. Das Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire – die Europäische Organisation für Kernforschung – liegt im Westen von Genf, an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz. Hoch über den Bürogebäuden, Laborkomplexen und Kühltürmen, die an Atomkraftwerke erinnern, thront der Mont Blanc.
Infrastruktur:
Einmal kamen Menschen aus Hollywood ans Cern, sie wollten hier eine Szene für einen Film drehen. Es sollte eine besonders futuristische Szene werden, für den Film „Illuminati“: Darin bedroht hochexplosive Antimaterie den Vatikan, geklaut wurde sie aus dem Cern. Der Forscher Christoph Rembser fährt sich durch die grauen Haare und lacht: „Die haben sich umgesehen und dann entschieden, die Cern-Szenen im Studio nachzustellen.“ Denn futuristisch ist hier kaum etwas: An den großen Plattenbauten hängen rostige Rollläden von den Fenstern, dahinter stehen in Minibüros mit grauem Krankenhausboden wuchtige Eisenschreibtische. Vor ihnen braune, verlotterte Drehstühle. Christoph Rembser ist Teilchenphysiker, ursprüngliche Staatsbürgerschaft: deutsch. Seit 14 Jahren ist er am Cern. Rembser leitet eines der Projekte am Atlas-Detektor, jenem Fühler, der das Higgs-Teilchen, das letzte Puzzlestück in einer der wichtigsten Formeln aus der Physik, aufspüren soll. Wenn es denn existiert. In dem Jahr, als der schottische Physiker Peter Higgs die Idee hatte, die mit diesen Geräten nun bewiesen werden soll, ist Christoph Rembser geboren. Er fühlt sich dadurch – ganz schön metaphysisch – mit Higgs verbunden.
Bevölkerung:
An die 3.500 Physiker, Ingenieure, Kantinenmitarbeiter und Putzkräfte arbeiten in dem Zentrum in der Schweiz. Und dann sind da noch all die anderen, die Exil-Cerner: Weltweit verwursten noch mal etwa 10.000 Wissenschaftler aus über 80 Nationen Daten aus den Cern-Beschleunigern. Sie sehen meist zu, dass sie wenigstens für ein paar Monate oder Wochen als Gastforscher einmal ins Zentrum in der Schweiz können. Denn einmal am Cern zu arbeiten, das ist für jeden Teilchenphysiker das Prestigeereignis überhaupt. Das Cern hat eine eigene Zeitung, einen Segelclub, Autos mit Cern-Logo, eine Bank, einen Supermarkt, ein Restaurant und einen Cern-Chor. Ein Teil der Bevölkerung wohnt im Schweizer oder im französischen Umland, andere wohnen in Cern-Wohnheimen, feiern dort Feste, finden Partner. „Hier arbeiten Menschen aus allen möglichen Ländern zusammen. Auch aus solchen, die sich politisch nicht so verstehen“, sagt Christoph Rembser. Das macht das Cern für ihn zum tollsten Ort der Welt. Sagt er wieder und wieder.
Kodex:
Alles, was am Cern geforscht wird, ist öffentlich zugänglich. Als das Cern 1954 gegründet wurde, war das revolutionär: Forschung war damals meist staatlich, gerade die Atomforschung oft an die Waffenindustrie gekoppelt. Staaten, die gemeinsam forschen, gab es kaum. Die zwölf Gründungsländer, unter anderen Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Griechenland, wollten einen Ort schaffen, an dem sie friedlich und rein wissenschaftlich Kernforschung betreiben. Niemand aus der Organisation sollte sich mit militärischen Zwecken befassen. Heute sind 20 Länder Mitglied in der Forschungsgemeinschaft, fast alles EU-Staaten.
Produktivität:
An sich hoch. Tag und Nacht brennt Licht in den Labors, Forscher treffen sich in Seminarräumen, beraten, basteln Formeln und verwerfen sie wieder. Hinter Türspalten sieht man Menschen auf ihren Drehstühlen, sie starren auf mit Kreide vollgeschriebene Tafeln, sagen nichts. Hier wird gearbeitet. Viel. Für die Allgemeinheit Nützliches springt bei alldem doch nur gelegentlich heraus: Teilchenbeschleuniger in der Krebstherapie etwa, Touchscreens, und auch das World Wide Web. Immerhin.
Angreifer:
Gabriela Schröter, eine in der Schweiz lebende Deutsche. Sie fürchtet, der riesige Teilchenbeschleuniger namens LHC werde schwarze Löcher produzieren, die die ganze Welt in sich verschlingen. Sie klagte gegen das Cern und wollte die Experimente verhindern. „Das hat uns ganz schön viel Nerven gekostet“, sagt Christoph Rembser. Auch manche Schriftsteller schrieben Horrorszenarien über die schwarzen Löcher am Cern. Und dann noch die Medien: Nach einer Panne im LHC machten sich Zeitungen über die Expertise der Cern-Forscher lustig. Mittlerweile ist Gabriela Schröter vor allen Gerichten gescheitert, die Pannen sind behoben, gefährliche schwarze Löcher, so sind sich Experten sicher, wird es bei den Experimenten nicht geben.
Staatshaushalt:
Etwa 850 Millionen Euro können die Cern-Forscher im Jahr für ihre Versuche ausgeben. Mit 174 Millionen Euro jährlich ist Deutschland der größte Geldgeber. Ganz schön viel Geld? Finden die Wissenschaftler hier nicht. „Wir haben es einfach geschafft, Forschung zu bündeln“, sagt Rembser. Es scheint nur so viel, weil es die gesammelten Forschungsgelder aus 20 Ländern sind. Für einzelne kleine Physikprojekte würde vielleicht insgesamt viel mehr verpulvert. Und hier geht es um Urfragen der Menschheit. Aber warum das Geld nicht in etwas stecken, was der Menschheit direkt nützt? In Klimaschutz, HIV-Prävention, in Schulbildung? „Grundlagenforschung ist ein Stück Kultur“, sagt Christoph Rembser.
Religion:
Gottesteilchen. Wie alles anfing – die Suche danach und damit der Beweis der Theorie von Peter Higgs ist das erklärte Hauptziel des Staates. Doch die Cern-Bürger suchen auch nach anderem schwer Vorstellbarem wie der Antimaterie, ermitteln die Geschwindigkeit der Winzlinge Neutrinos, forschen über dunkle Materie oder den Zusammenhang zwischen kosmischer Strahlung und Wolkenbildung. Schon deshalb, weil schließlich noch etwas zu tun sein muss, wenn das Higgs-Teilchen endlich gefunden ist.