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Archiv-Artikel

Der Affe weiß, was ihn erwartet

Vittorio Gallese, Mitentdecker der Spiegelneurone, sprach im Einstein Forum darüber, wie unsere Hirne vom Handeln anderer angeregt werden

Sprache fällt nicht vom Himmel, sie hat naturgeschichtliche Vorläufer

VON CORD RIECHELMANN

Es war – ein zumindest hierzulande – selten angenehmer Abend der Inspektion des Gehirns. Im Einstein Forum sprach Vittorio Gallese, der seit 2006 ordentlicher Professor für Physiologie an der Universität Parma ist, zum Thema „From Mirror Neurons to Intersubjectivity. A Neuroscientitific Perspective on Social Cognition“. Gallese kann neben Giacomo Rizzolatti und Leonardo Fogassi als Entdecker der Spiegelneurone gelten. Spiegelneurone zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur Aktionspotenziale „funken“, wenn der Körper selbst eine Tätigkeit ausführt, sondern auch dann, wenn dieselbe Tätigkeit bei einem anderen Organismus „nur“ beobachtet wird.

Diese Nerveneinheiten haben also nicht nur mit der Steuerung der eigenen Motorik zu tun, sie sind ebenso an der Beobachtung einer Handlung eines anderen beteiligt. Dadurch können sie die Handlung eines anderen zu einem internen Erlebnis werden lassen. Die Möglichkeit der Verknüpfung der Handlung eines anderen mit der eigenen Erfahrung ist aber die Voraussetzung für alle Phänomene dessen, was man als Imitationslernen bezeichnet. Entscheidend dabei ist die Entdeckung, dass die neuronale Kopplung von motorischen Aktivitäten und nach außen passiv erscheinender Wahrnehmung mit einem internen Nachvollzug der Bewegung verbunden ist, die sich im Bild der Nervenaktivität nicht vom Bild während der tatsächlich ausgeführten Arbeit unterscheidet.

Das hat für das Verständnis von Lernvorgängen ganz praktische Bedeutung. So wird zum Beispiel verständlich, wie Orang-Utans im Zoo zu Ausbruchspezialisten werden konnten, ohne dass man sie je dabei beobachtet hätte, durch Versuch und Irrtum am Gatter herumzuwerkeln. Die Menschenaffen beobachten nur jeden Ein- und Ausstieg ihrer menschlichen Wärter, vollziehen intern die Bewegungen nach und schreiten erst dann zum Ausbruch, wenn sie ihre internen Erfahrungen zielgerichtet koordiniert haben. Früher, als Denken noch nicht im Verruf stand, die Markteffizienzen unnötig aufzuhalten, nannte man so was langes oder tiefes Nachdenken.

Ein Neurowissenschaftler, der seinen Vortrag über Spiegelneurone und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung sozialer Aktionen wie Gallese mit einem Nietzsche-Zitat beginnt und im Laufe seines Gedankengangs auch noch auf Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricoeur, Martin Heidegger und Emanuel Levinas zu sprechen kommt, kann kein schlechter Mensch sein. Es fehlte in der Ahnenreihe jener Denker, die die Möglichkeit der kulturellen Mimesis der Menschengattung mit der Fähigkeit zur Intention und dem Sprachvermögen verbinden, nur der Meister des Spiegels selbst, der Psychoanalytiker Jacques Lacan.

Mit Lacan aber hätte Gallese am vergangenen Dienstag in Potsdam den fragenden Widersacher par excellence in seinen Vortrag getragen. Nur leicht radikalisiert, liefert nämlich das Konzept der Spiegelneurone die neurophysiologische Grundlage für die aus der Psychoanalyse bekannten Phänomene des Widerstands und der Übertragung. Die Einsicht in die neurophysiologischen Grundlagen des Widerstands und der Übertragung hätte nicht nur Lacan, sondern auch Sigmund Freud jubilieren lassen.

Allerdings hätten beide den Hirnphysiologen ermahnt, bei der Deutung seiner Daten nicht die historische Theorie des Symbols, die intersubjektive Logik sowie die Zeitlichkeit des Subjekts außer Acht zu lassen. Auf seine Art nahm Gallese diese Mahnungen in den Blick, indem er die erwähnten Philosophen zwischen Abbildungen von funkenden Neuronen und leuchtenden Hirnarealen zu Wort kommen ließ.

Nietzsches Vorstellung, dass die Fähigkeit, einen anderen Menschen zu verstehen, darin bestehe, dass wir den anderen in uns imitieren und damit nur nachstellen, was wir von ihm mitbekommen – und nicht den anderen selbst in seiner Verschiedenheit –, korrigieren die Ergebnisse der Spiegelneuronenversuche in zwei Punkten entscheidend: einmal dadurch, dass sie zeigen, dass die Möglichkeit der Empathie mit einem Artgenossen nicht an die Icherkennung gebunden ist. Sie lässt sich schon im frühesten Schreibabystadium, also noch vor jeder Ichkonstitution zeigen. Zum anderen sind damit der vorindividuellen Mimesis und Empathie Fähigkeiten auch der Sprache vorgeschaltet bzw. unterlegt.

Das wiederum führt dazu, dass etwa Martin Heideggers Versuch, die Sprache allein dem Menschen zuzuschlagen und den Menschen völlig ohne das Geschrei des Babys zu denken, auf drastische Weise der naturgeschichtliche Boden entzogen wird: Die Sprache ist nicht vom Himmel gefallen, sie hat naturgeschichtliche Vorläufer in den Gehirnstrukturen nicht nur von Menschenbabys, sondern auch von Affen. Das ist die Kurzessenz der Spiegelneuronenforschung – und Lacan hätte sie genossen.

Gallese verdankt die Entdeckung der Spiegelneurone allerdings einem anderen Helfer, dem in seinem Fall wörtlich zu nehmenden Zufall. Gallese hatte seit den frühen 90er-Jahren an einem bestimmten Hirnareal, dem prämotorischen Cortex von Schweinsaffen (Macaca nemestrina), gearbeitet. Der prämotorische Cortex koordiniert bei den Affen die Planung und Ausführung zielorientierter Bewegungen. Während Gallese einen solchen Versuch aufbaute, gerieten die Neurone seiner Affen bereits auf dieselbe Weise in Erregung wie bei der eigenhändigen Durchführung. Die Affen wussten also, was von ihnen erwartet wurde, und konnten voraussehen, was gleich kommt. Ihre Spiegelneurone arbeiteten dabei höchst selektiv und immer nahe an den Handlungen ihrer menschlichen Versuchsleiter.

Wenn etwa ein Gegenstand wie eine Hummergabel, die in bestimmten Versuchen zum Einsatz kam, ruhig im Regal liegen blieb, blieben auch die Nervenzellen ruhig. Wurde die Gabel aber vom Forscher in die Hände genommen und für den Versuch präpariert, feuerte die Nervenapparatur in Vorausschau den Versuchsablauf intern durch.

Gallese und seine Mitarbeiter, die er in seinem Vortrag als „Parma Group“ vorstellte, interessierten sich aber nicht nur für optische Reize als Auslöser, sie testeten auch akustische Stimulantien. Dabei fanden sie heraus, dass bestimmte Neurone aktiviert waren, wenn die Affen Nüsse knackten, beim Nussknacken zusahen oder nur die spezifischen Geräusche hörten, die Affen beim Nussknacken machen. Und es zeigte sich, dass die rein akustische Wahrnehmung den Ablauf einer bekannten Handlung im Affen teilweise heftiger in Gang setzen konnte als ein optischer Stimulus. Interessant ist das, weil der prämotorische Cortex der Affen mit dem Broca-Areal, dem motorischen Sprachzentrum des menschlichen Hirns, homolog, also entwicklungsgeschichtlich verbunden ist. Eben das ebnet den Weg für die Neurosoziologie der menschlichen Sprachentstehung.