: Ihre Kunst ist Rache am kolonialen Bild
PORTRÄT In ihren Bildern arbeitet Rajkamal Kahlon mit Relikten aus der ästhetisch üppigen Ära der Kolonialzeit. Die in Berlin lebende Amerikanerin wundert sich, wie wenig der westliche Mainstream über die eigene Kolonialgeschichte weiß
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Kein Bild entsteht im leeren Raum. Jede Figur nimmt den Dialog mit etwas auf, das schon vorher da war. Jedes Bild beruht auf Bildern, die sich andere zuvor von diesem Gegenstand gemacht haben.
Das ist eine sehr allgemeine Wahrheit, die sowohl die Bilder unserer Vorstellungskraft als auch jedes medial realisierte Bild betrifft. In der Malerei von Rajkamal Kahlon aber wird dieser Vorgang als bewusster Dialog gestaltet, als Angriff auf die Bilder, die schon da sind, und als Kritik am Vergessen ihrer Herkunft. Denn Rajkamal Kahlon setzt sich mit der Bildproduktion der Kolonialzeit auseinander, mit den Bildern, die sich die erobernden Nationen zu ihrer eigenen Erbauung und Rechtfertigung von den Menschen der unterworfenen Länder machten. Deren Ästhetik, in Stichen und Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, mutet heute oft nostalgisch und auch prächtig an. Sie sind visuell verführerisch – und auch deshalb eine ästhetische Herausforderung.
Die Ästhetik der Kolonie
Denn gerade die Attraktivität ihrer Ästhetik, sagt Rajkamal Kahlon, macht die Sache für den Betrachter komplizierter und widersprüchlicher, wenn er darüber nachzudenken beginnt, aus welchem Kontext die stammen. Die großen Wasserfarbenbilder, die mir die Künstlerin Ende Oktober an den Wänden und auf dem Fußboden in ihrem kleinen Berliner Atelier in der Dessauer Straße gezeigt hat, sind jetzt Teil einer Ausstellung im Kunstverein Göttingen. Man nimmt zuerst den Illustrationscharakter wahr und die historischen Kostüme. Dann erst sieht man die kleinen Zusätze, die nadelstichfein den Kontext verändern, den Bogen in die Gegenwart schlagen. Von zwei Frauen im identischen Sari ist das Gesicht der einen mit Bandagen umwickelt, während die andere eine Handgranate vor ihren Füßen hat, deren Abzug sie noch in der Hand hält.
Das ist sehr vieldeutig. Die Bandagen zitieren zusammen mit dem Titel „My Palace of Justice“ die Blindheit von Justizia, aber sie verweisen auch auf die Blindheit derer, die unter der Kategorisierung „typisch indisch“ das Individuum nicht mehr zu sehen vermögen. Die Handgranate weckt Assoziationen an Selbstmordattentäter, aber ebenso an den Generalverdacht des Terrorismus gegenüber Menschen mit brauner Haut. Ein zweites Bild, „The Kama Sutra of Adam Smith“, beschäftigt sich mit den erotischen Fantasien des Orientalismus einerseits und der willkommenen Kaufkraft der ehemaligen Kolonialreiche andererseits: durchscheinend ist das Bauchtanzkleid einer Frau, die in der einen Hand eine Pradatüte und in der anderen ein Buch hält, „Erotic Tales of Capitalism“.
Die Erfahrung, allein ob der Hautfarbe zu einer Gruppe der Verdächtigten zu gehören, stand für Raykamal Kahlon am Beginn ihrer Arbeit über die Besetzung von Identitäten. Sie ist in Kalifornien geboren und aufgewachsen, ihre Eltern waren aus Indien gekommen. 2001 zog sie nach New York und erlebte nach den Anschlägen vom 11. September den Umschwung in der Wahrnehmung. Plötzlich sahen ihre barttragenden Verwandten so aus wie das Feindbild der USA.
In dieser Zeit begann sie über hundert Jahre alte Kinderbücher als Material zu entdecken, wie „Cassells Illustrated History of India“ von 1875. Denn das Erschreckende war für die Künstlerin, dass die Vorstellungen vom Indien der Gegenwart wenig von dem tradierten Bild abwichen, kaum neues Wissen oder Interesse dazugekommen war. Als sie schließlich die einzelnen Bildseiten heraustrennte und mit pittoresken Übermalungen überarbeitete, war dies auch „eine Rache“ am Buch und mehr noch an der Beharrlichkeit, mit der seine Bilder fortwirkten.
Ihre Arbeiten handeln Rajkamal Kahlon oft eine Kategorisierung als indische Künstlerin ein. Dabei arbeitet sie doch über eine westliche Bildproduktion. Dass dies immer wieder übersehen wird, bestätigt in ihren Augen die Erkenntnis, dass es an kritischem Bewusstsein gegenüber der Geschichte der Kolonialzeit mangelt. Das stellt sie, die vor anderthalb Jahren mit einem Freund nach Berlin kam, auch in Deutschland immer wieder fest: Deutschland tue so, als sei es keine Kolonialmacht gewesen. In den Illustrationen der alten Zeitschriften aus England und Frankreich, die sie über eBay und Antiquariate findet, ist die Kolonialmacht des Deutschen Reiches aber sehr wohl gegenwärtig.
Gruselige Eingriffe
In einer ihrer wichtigsten Serien, die sie in den USA, in Indien und 2009 auch in Berlin ausgestellt hat, „Did you kiss the dead body“, suchte Rajkamal Kahlon eine Auseinandersetzung mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan. Sie nutzte dazu die Autopsieprotokolle von afghanischen und irakischen Männern, die in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gestorben waren. Die großen Papierbögen, auf die sie die Texte druckte, marmorierte sie rosafarben, eine barocke Aufladung. Über den Text zeichnete sie per Hand Figuren, die auf Vorlagen aus alten Anatomiebüchern beruhen: Das sind manchmal sehr schöne menschliche Körper, die in einem seltsamen Gestus ihre eigene Haut für den Blick in das Innere des Körpers bereitwillig aufklappen, oft aber auch groteske Verfremdungen oder gruselige Eingriffe. Allen Motiven gemeinsam ist die Präsenz des Körperlichen, die Ahnung von Schmerz. In der Reproduktion kann man die Zeichnungen leicht für Collagen halten. Rajkamal Kahlon ist aber wichtig, dass es Handzeichnungen sind, dass also auch ihr eigener Körper für sie in der Arbeit spürbar war.
Niemand setzt sich gerne mit Krieg, Gewalt und dem Tod auseinander, sagt Rajkamal Kahlon. Sie suchte deshalb nach einer Strategie, das Nachdenken darüber auszuhalten. Es sind fremde Tote, denen sie in „Did you kiss the dead body“ einen Körper wiedergibt, einen Schmerz, eine Erinnerung. Die Arbeit ist ebenso sehr eine Geste des Mitleids wie eine der politischen Empörung.