: Leben nach Auschwitz
DOKUMENTATION Über Jahrzehnte hat Alwin Meyer die Kinder von Auschwitz gesucht. Ihm haben sie, die zum Teil weder ihr Alter noch ihre Herkunft kannten, das Ungeheuerliche erzählt
VON LENNART LABERENZ
Schon die erste Sequenz von Claude Lanzmanns Film „Shoah“ ist eine Zumutung, eine Sensation: Ein Mann steht auf einem Holzkahn, Wald und Wiesen bei Chelmno sind satt und grün. Der Mann singt ein tumbes, fröhliches deutsches Soldatenlied, er heißt Simon Srebnik, einer von zwei Überlebenden der Vernichtungsphasen im Lager Chelmno. Das Lied musste er als Dreizehnjähriger für die Deutschen singen, während sie ihn täglich durchs Dorf trieben oder auf dem Kahn zur Zwangsarbeit brachten: „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren / öffnen die Mädchen / Fenster und Türen / Ei warum, ei warum / Ei nur wegen dem Tschingderassabum?“
Unter der friedlichen Oberfläche des sommerlichen Ensembles zeigt sich der Zivilisationsbruch: Das Lied ist das verbindende Glied zwischen Nationalismus und Herrenrasse, Spießigkeit und Militarismus, Kultur und Sadismus. Die Gestalt des Kindes, als das wir uns Srebnik vorstellen müssen, übersteigert das Grauen ins Maßlose. Adornos These, nach der blinde und selbstgenügsame Kultur und Kunst seit Auschwitz „Barbarei“ sei, bekommt eine Singstimme. Zu viel für den Bayerischen Rundfunk, mit aller Kraft stemmte er sich 1985 gegen die Ausstrahlung.
Die Sicht von Kindern in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ist selten. In der Regel wurden Kinder, vor allem wenn sie jünger als zwölf Jahre waren, sofort getötet: „Nicht arbeitsfähig.“ Durch das „Jugendverwahrlager“ Litzmannstadt/Lodz wurden 20.000 Jugendliche geschleust, nach Auschwitz kamen über 200.000. Manche wurden nicht sofort ermordet, weil Josef Mengele und sein Team sie noch für Experimente benutzten: Nina und Guido, vier Jahre alt, öffneten sie Rücken und Blutgefäße, nähten sie aneinander. Solche Experimente.
Alwin Meyer hörte 1971 bei seinem ersten Besuch in Auschwitz vom Überlebenden Tadeusz Szymanski, dass auch Kinder bestialisch malträtiert wurden – und begann weltweit nach Überlebenden zu suchen. Gespräche mit über drei Dutzend Deportierten, die Auschwitz als Kinder überlebten, bilden den Grundstock für den Band „Vergiss Deinen Namen nicht – Die Kinder in Auschwitz“.
Meyers Zugriff ist nicht der eines Historikers, allerdings ordnet er Erzählungen und Erfahrungsberichte mit allgemeinen Einführungen, schaut auf die Lebensumstände der Kinder. Er erzählt dabei in den ersten Kapiteln nicht nur von Kinderglück und Zerfall des friedlichen Zusammenlebens, sondern auch, dass viele Juden selbst noch in Deportationszügen nicht recht glauben konnten, wie ihnen geschah.
Meyer schweift durch Sprachen und Alltag von Juden und Nichtjuden in deutschen, polnischen, griechischen oder tschechoslowakischen Städten und blickt so auf die weit gefächerten Nuancen einer europäischen Kultur. Heute, wo Politiker von „Parallelgesellschaften“ erschrockene Gesichter ziehen und Pegida-Pöbler mit dem Begriff „Volk“ durch Talkshows flanieren, ein bemerkenswertes Detail.
Seit 1940 wurden aus allen besetzten Gebieten Menschen in Konzentrationslager verschleppt, Meyer folgt der Innenperspektive des Grauens, schaut auf den deutschen Überfall, Enteignung, Flucht, Deportationen. Als Jehuda Bacon in Theresienstadt ankam, hatte er „alles Neue an, und das doppelt und dreifach. Drei Paar Strümpfe, zwei Hemden, Sweater, Röcke, Wintermantel, und überall besondere Taschen, in denen ich alles Mögliche hatte. In einer eine Taschenapotheke, Vitamine, in einer anderen Nähzeug, Bleistifte, Papier, Zucker, Trockenspiritus, ein Adressenverzeichnis, eine ganze Menge Taschentücher, eine Wasserflasche. Ich glaube, es hat nichts gefehlt. Und genauso sahen alle rings um mich herum aus.“ Es sollte Minuten dauern, bis all dies verloren und Makulatur war.
„Während der Junitage 1942“, schreibt Saul Friedländer in seinem Band „Die Jahre der Vernichtung 1939–1945“, „erreichte der deutsche Überfall auf die Juden Europas sein volles Ausmaß“. Kinder aus Thessaloniki, Berlin, Hronov, Odolice, Prag, Witebsk oder Topol’cany werden nach Auschwitz deportiert. Manche müssen noch aus dem Auskleideraum des Krematoriums vorgefertigte Grußpostkarten schicken – neben den schlicht unfasslichen Berichten von Willkür und dem gewaltsam aufs Nackte reduzierte Leben sind es solche Details, die einem den Atem nehmen: Die PR musste stimmen.
Bei der Buchvorstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin fällt der bemerkenswerte Satz: Den Umstand, dass die Bundesrepublik heute ein geachtetes Mitglied der Weltpolitik ist, haben wir zu keinem kleinen Teil Überlebenden der Konzentrationslager zu danken.
■ Alwin Meyer: „Vergiss Deinen Namen nicht – Die Kinder von Auschwitz“. Steidl Verlag, Göttingen 2015, 757 Seiten, 38,80 Euro. Die gleichnamige Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand läuft bis zum 29. März