: „Jedes Haus ist sein eigener Kiez“
Das Künstlerpaar Köbberling und Kaltwasser über Kinder, Kunst und Kiezkultur
Seit über drei Jahren wohnen Folke Köbberling, 38, und Martin Kaltwasser, 42, mit ihren beiden Kindern im Hansaviertel, im Schwedenhaus. Die Malerin und der Architekt verwerten in ihren gemeinsamen Arbeiten ungenutzte Ressourcen, fertigen etwa temporäre Häuser aus Bauabfällen. Im Sommer 2007 beteiligten sie sich mit einem alten Bauwagen an der Ausstellung „die stadt von morgen“ in der Akademie der Künste.
Ihr Bauwagen, der vor Hansabibliothek stand, war für Nachbarn und Passanten offen. Was steckte dahinter?
Folke Köbberling: In einigen Häusern des Hansaviertels gibt es Gemeinschaftsräume, die von den Bewohnern nicht genutzt werden, zum Beispiel im Oscar-Niemeyer-Haus. Darauf wollten wir mit unserem Wagen aufmerksam machen: Er diente drei Monate lang als ein Ort der Kommunikation. Zuvor konnten die Bewohner bei uns umsonst Sperrmüll abgeben, den wir dann zum Ausbau des Wagens genutzt haben.
Martin Kaltwasser: Wir arbeiten nicht nach dem Prinzip „Form follows function“, wie es in der Moderne hieß, sondern nach dem Motto „Function follows form“. Wir nehmen, was wir finden, und verwenden es.
Und was passierte während der Ausstellung in dem Bauwagen?
Köbberling: Er stand zunächst Tag und Nacht offen. Es kamen viele Touristen, einige Besucher haben den Bauwagen für Geburtstagsfeiern genutzt. Kindergartengruppen haben mit einer Künstlerin gearbeitet, die hier Basteln für Kinder anbot. Ein unbekannter Spender hat 60 Bücher hinterlegt, die zum Teil gelesen wurden, dann aber nach und nach verschwanden. Wir hatten ein Gästebuch ausgelegt – darin sind die Besuche dokumentiert. Viele, vor allem Kinder, waren traurig, als der Wagen dann weg war.
Gab es gar keine Probleme?
Köbberling: Einige ältere Besucher und Besucherinnen fanden, der Bauwagen sei nicht angemessen für das 50-jährige Jubiläum des Hansaviertels, und haben ihren Unmut auch dokumentiert. Zwei Obdachlose, die sich im Tiergarten kennen gelernt hatten, haben den Bauwagen ab 19 Uhr genutzt und dort zwei Wochen genächtigt. Nach einiger Zeit haben wir Spritzen und Diebesgut im Wagen gefunden, da mussten wir ihn nachts abschließen. Der eine Obdachlose wollte heim nach Bremerhaven, hatte allerdings kein Geld. Deshalb habe ich ihm ein Ticket gekauft. Der andere ging zurück nach Kreuzberg.
Die Gemeinschaftsräume in den Häusern finden wenig Resonanz bei den Bewohnern. Wie war das Echo auf Ihren temporären Gemeinschaftsraum?
Kaltwasser: Viele Besucher meinten, die Idee von Gemeinschaft funktioniere in Deutschland nicht: Hier wolle jeder für sich allein leben. Es wohnen ja nicht umsonst gern Menschen in den Bungalows des Hansaviertels, die keine Fenster zur Straße hin haben: Hier leben sie den Traum von ihrer privaten Oase mitten in der Stadt. Sie sagen, die Stadt sei anstrengend genug. Aber warum soll man sich das Leben so schwer machen? Es ist doch viel besser, wenn wir uns öffnen.
Sie haben zuerst im lebendigen Kreuzberg gewohnt. Warum sind Sie ins eher ruhige Hansaviertel gezogen?
Köbberling: Wir sind durch Zufall ins Hansaviertel gezogen, weil ich über das „Goldrausch Künstlerinnenprojekt“, das sich hier im Viertel befindet, von der Wohnung erfahren habe. Zuerst hat es uns hier nicht gefallen, doch jetzt können wir die Unaufgeregtheit des Viertels genießen.
Sind die Konzepte der Moderne hier aufgegangen, und wenn ja, funktionieren sie jetzt noch?
Kaltwasser: Wir sind große Anhänger der Moderne. Vor allem aber gibt es hier wunderschöne Wohnungen. Jedes Haus steckt voller tollen Ideen. Und hier kann man sich selbst seine Wege suchen, unabhängig von der Straßenführung: Unter vielen Häusern kann man hindurch gehen – durch die offenen Eingangspassagen. Bemerkenswert fanden wir auch die Potenziale, die von den Bewohnern bisher nicht genutzt werden, zum Beispiel den öffentlichen Raum. Leerer Raum wird generell kaum beachtet, aber hier hängt das wohl auch vom Alter der Bewohner ab. Kinder dagegen nutzen ihn gern, weil sie dort spielen können.
Fast 30 Prozent der Bewohner im Hansaviertel sind über 60 Jahre alt. Wie wirkt das auf eine junge Familie?
Köbberling: Nur 30? Das sind gefühlte 60 Prozent!
Kaltwasser: Die Architektur ist sehr kinderfreundlich. Dass dieses Konzept nicht ganz aufgeht, liegt an der Mentalität der Bewohner. Für uns war es anfangs schwierig: Zum Beispiel haben wir mit den Kindern auf einer Wiese hinter unserem Haus gespielt. Da gab es Ärger, weil wir zu laut waren. Und den Rasen durfte man nicht betreten.
Köbberling: Mittlerweile haben sich die Nachbarn damit arrangiert, weil es hier immer mehr Kinder gibt. Früher waren Sandkästen rar, heute hat jedes Haus eine Spielecke für mehr als fünf Kinder. Aber vor vielen Häusern steht immer noch „Rasen betreten verboten“.
Wie wichtig ist das Hansaviertel für Ihren Alltag?
Kaltwasser: Wir arbeiten zuhause, haben aber auch ein Atelier in Kreuzberg. Die Kinder gehen auf eine Schule in Moabit, nicht weit von hier. Wenn wir sie abholen, dann sind wir froh, dass wir hier bleiben können.
Köbberling: Die meisten Bewohner verschiedener Häuser kennen sich nicht, aber jedes Wohnhaus hat seine eigene Struktur, stellt einen eigenen Kiez dar. In unserem ist das sehr ausgeprägt: Hier leben, auch wegen der großen Wohnungen, die meisten Kinder. 90 Prozent der Einkäufe tätigen wir im Hansaviertel. Auch den Zahnarzt haben wir gewechselt: Der neue hat seine Praxis in unserem Haus. Interview: Bettina Koller