: „Dass man miteinander streitet“
CHRISTINA THÜRMER-ROHR, Jahrgang 1936, emeritierte Professorin der Technischen Universität Berlin, ist seit den frühen Siebzigerjahren eine der wichtigsten Gendertheoretikerinnen des deutschsprachigen Raums. Sie lebt in Berlin. FOTO: SOBOTKA
Warum wird Hannah Arendt oft stärker verehrt als ihr Werk? Wie hätte sie den Nahostkonflikt eingeschätzt? Wie umriss sie politische Freiheit? Ein Gespräch mit Antonia Grunenberg und Christina Thürmer-Rohr
INTERVIEW GABRIELE SOHL
taz.mag: Frau Thürmer-Rohr, Frau Grunenberg, können Sie uns erklären, weshalb sich so viele Menschen mehr für die Person Hannah Arendt als für deren Werk interessieren?
Christina Thürmer-Rohr: Weil sie sich als Identifikationsfigur eignet, jedenfalls auf den ersten Blick. Kürzlich schrieb Russell Jacoby, ein linker Intellektueller aus Los Angeles, Arendt decke alles ab, sie sei einfach alles – metaphysisch und irdisch, profund und sexy. Aber ihr Stern leuchte nur deshalb so hell, weil das intellektuelle Firmament so trübe sei.
Antonia Grunenberg: Gott sei Dank ist Herr Jacoby nicht der einzige Stern am intellektuellen Firmament.
Hat das Interesse an Arendts Person mit ihrem Mut zu tun, sich in der politischen Analyse quer zu allen Fronten zu stellen?
Grunenberg: Es gibt viele Gründe für die Faszination, die von ihr ausgeht. Sie ist aus Deutschland vertrieben worden und hat sich mit dem Augenblick des Ausgestoßenseins sofort als Kämpferin artikuliert – und nicht als Opfer. Und sie hat sich im Exil der Alternative verweigert, der alle Exilanten gegenüberstanden: Bewahrung der alten Identität und damit Vereinsamung, oder Anpassung, in der Hoffnung auf eine Integration in das Gastland und damit ein Vergessen der eigenen Herkunftskultur. Arendt wählte einen dritten Weg: Das Beharren auf dem Anderssein in der Teilhabe an der neuen Kultur und Sprache in den USA.
Was hat Sie dazu gebracht, Hannah Arendt zu einem Ihrer Lebensthemen zu machen?
Grunenberg: Meine Themen sind ja die der politischen Freiheit und des politischen Handelns. Arendt war für mich eine Öffnung sondergleichen, für die ich außerordentlich dankbar bin. Ich sehe mich aber nicht als jemanden, die nun zeit ihres Lebens Hannah Arendt interpretieren wird. Jene, die sie lesen, sind aufgefordert, selbst weiterzudenken. Ich muss allerdings auch sagen, dass es für ungebildete Geister sehr, sehr schwer ist, ihren ganzen Kontext – den historischen, literarischen, den philosophischen – auch nur zu erahnen. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich sie anders lesen konnte als: Hauptaussagen notieren! Und dann fragen: What’s her point? Man muss ihre Texte auf sich zukommen lassen. Und manchmal auch stehen lassen, als nicht so leicht entschlüsselbar.
Den Text auf sich zukommen lassen – das kann doch eine Freude sein, oder?
Grunenberg: Ich würde fast sagen, das ist ein Genuss – wenn das nicht das falsche Wort wäre.
Thürmer-Rohr: Eine Freude, ja. Ich habe Arendt erst Anfang der Neunzigerjahre entdeckt. Und das war wie eine Erlösung – ein politisches Denken, das zugleich dialogisches Denken ist, in dem es um die Verständigung der Verschiedenen geht, um das gemeinsame Dritte, die Welt, die erst real wird, wenn man verschiedene Perspektiven aufnimmt und sich so etwas wie eine innere Bevölkerung bilden kann. Und schließlich die Analyse des Denkens selbst, das innere Zwiegespräch, in dem man einem inneren Gegenüber Rede und Antwort stehen muss. Daraus ergibt sich kein Rezept, sondern eine Aufforderung zum Selberdenken.
Hat Arendt Ihre feministische Kritik beeinflusst?
Thürmer-Rohr: Ja sicher. Im Sinne eines neuen Verständnisses von Pluralität und Dialog, weg von der Identitätspolitik, von den kollektiven Singularen: die Deutschen, die Türken, der Mann, die Frau und so weiter. Das fiel in eine Zeit, in der sich eine gewisse Ermüdung, eine Unzufriedenheit mit feministischen Rigiditäten und Denkverboten breit gemacht hatte.
Hat Arendt den Feminismus ernst genommen als politische Bewegung?
Thürmer-Rohr: Er hat sie nicht interessiert. Für Arendt war Geschlecht eine vorpolitische Tatsache, das heißt: gegeben und nicht gemacht. Viele Feministinnen haben deswegen Schwierigkeiten mit Arendt. Sie sei elitär, ihr Freiheitsverständnis setze voraus, dass Menschen schon befreit sein müssen, bevor sie politische Freiheit schaffen können, das Anfangenkönnen in einer verseuchten Welt sei illusionär, sie idealisiere die griechische Polis, sie ignoriere den Ausschluss der Frauen, ihr Frauenbild sei konventionell. Ich halte das aber nicht für das Wesentliche.
Hannah Arendt war lange Zeit auch eine ganz konventionelle heimliche Geliebte – ihres ehemaligen Lehrers Martin Heidegger. Sie haben ein Buch darüber geschrieben, Frau Grunenberg. Was hat Sie an deren Liebesgeschichte fasziniert?
Grunenberg: Dass sie so unmöglich war. Und dass es ein ganz schlechtes Buch gibt, von Elzbietta Ettinger, die mit der Haltung daran ging: How could she? Wie konnte Arendt als Jüdin sich mit einem Nazi einlassen? Ettinger hat Arendt einfach Hörigkeit und Dummheit unterstellt und Heidegger männliches Dominanzstreben – à la der potente Professor und die kleine Studentin. Ich habe seine Briefe nicht als Ergüsse eines autoritären, sich ungewollt lächerlich machenden Hosenmatzes gelesen. Ich war neugierig.
Haben Sie für sich etwas Neues entdeckt beim Schreiben dieser Liebesgeschichte?
Grunenberg: Dass die beiden ständig – auf je völlig andere Weise – das Prinzip der Differenz thematisiert haben. Dieses Wechselspiel von Treue und Verrat, von Zustimmung und Ablehnung ist immer präsent. Das Thema der Treue erscheint nach 1945 als ihre Frage an Heidegger, ob er sich und der Aufgabe des Denkens treu geblieben ist oder ob er sich so nachhaltig an die Nationalsozialisten verkauft hat, dass er damit auch die Sache des Denkens endgültig verraten hätte.
Aber Verrat bleibt doch Verrat. Er lässt sich nicht rückgängig machen.
Grunenberg: Nein. Arendt hatte zeit ihres Lebens tief gespaltene Gefühle Heidegger gegenüber. Sie hat ihn in Grund und Boden kritisiert in Briefen an andere Freunde, sie misstraute ihm, und natürlich war Heideggers Einlassung mit den Nationalsozialisten für sie auch Verrat an ihrer beider Liebe. Ihr Misstrauen hat sie nie verloren. Und trotzdem diese Treue, in der sie daran festhielt, dass es Heidegger war, der sie das Denken gelehrt hat.
Thürmer-Rohr: Das hat fast etwas Metaphysisches. Eine Verbindung, die nicht auflösbar ist.
Grunenberg: Es ging Arendt und Heidegger immer um den Bezug auf das gemeinsame Dritte. Die Leidenschaft zu denken. Das Denken, dem sie sich verpflichtet fühlten, nahm keine Kategorie, keinen Begriff und kein Konzept, keine Tradition als selbstverständlich und unverletzt. Die Erfahrung des Traditionsbruchs in der Moderne, der ihrer Auffassung nach darin bestand, dass das Denken den Bezug zum Sein – bei Heidegger – und zur Welt und damit zum Handeln – bei Arendt – verloren hatte, hat eben auch die Kategorien des Denkens zerstört. Und diese Erfahrung wollten sie denkend verarbeiten, einen Neuanfang setzen.
Mit einem Freund, der zum Feind geworden war?
Grunenberg: Freundschaft mit Heidegger im Angesicht dessen, was im Holocaust passiert ist – das schlägt allen Harmonievorstellungen von Freundschaft ins Gesicht. Sie wollte sich ihre Freundschaften, auch die zu anderen Menschen, nicht vom politischen Streit zerstören lassen. Doch mit dieser Sicht der Dinge stand sie fast allein. Der Freundschaftsfaden wurde ihr oft zerrissen.
Gerade von ihren intellektuellen Freunden.
Grunenberg: Ja. Gerade von den Intellektuellen.
Thürmer-Rohr: Freundschaft ist für Arendt immer eine politische Beziehung gewesen, weil Freundschaft den Unterschied wahrt. Der Freund ist der Andere, ein Gegenüber, mit dem man sich verständigen kann, aber nicht eins wird.
Könnte man behaupten, dass Arendts Denken ergebnisoffen ist, eine Art zu denken, die von vielen akademischen Disziplinen nicht gerne angenommen wird?
Grunenberg: Die Universitäten sind heute keine Stätten, an denen solches Denken einen Platz hat. Es gilt als ineffektiv. Weil man nicht die Summe darunter ziehen kann! Und weil es nicht unmittelbar anwendbar ist. Wir machen eigentlich Sachen, die an diese Universität heute nicht gehören und die sie gleichzeitig dringend braucht. Und in diesen Widerspruch führen wir die jungen Studenten hinein, und wenn sie gut sind, zerreißt es sie.
Zerreißt es Sie manchmal auch?
Grunenberg: Ja. Es ist nicht sehr lusterzeugend, permanent, auch lautstark damit konfrontiert zu werden, dass man einen Typus Universität vertritt, der outdated ist.
ANTONIA GRUNENBERG, Jahrgang 1944, Professorin für politische Wissenschaft an der Universität Oldenburg, leitet in der westniedersächsischen Stadt das von ihr mitgegründete Hannah-Arendt-Zentrum. FOTO: CARL-VON-OSSIETZKY-UNIVERSITÄT
Denken ist outdated?
Grunenberg: Mit unserm neuen, jetzt aus der Schale getretenen Universitätstypus wird ein jahrhundertealtes Vorurteil wieder einmal institutionell bestätigt: Theorie ist nur dann gut, wenn sie sich als angewandte beweisen kann. Nur: Dann ist sie ja keine Theorie mehr.
Thürmer-Rohr: Das war doch meist so … Es gab aber immer Nischen, wo die technokratischen Köpfe nicht besonders hoch im Kurs standen und von Kollegen und Studenten einfach nicht akzeptiert wurden. Aber diese wenigen sterben aus.
Grunenberg: Sind schon.
An unseren neuen Unis gibt es keinen Platz für Hannah Arendts politische Theorie?
Thürmer-Rohr: Sie wird ja behandelt, die Frage ist nur: wie? Man kann ihr Denken nicht einfach mit ein paar Schlagworten bachelorisieren und modulisieren. Arendt wollte verstehen. Dieses Verstehenwollen ist für sie ein nie abgeschlossener Prozess und zugleich eine Art Ansiedlung in, eine Anfreundung mit der Welt. Für sie sind Menschen weltbegabt, ein schönes Wort. Und das bedeutet nicht, die Wirklichkeit zu akzeptieren, sondern sich der Wirklichkeit zu stellen und entgegenzustellen.
Was würde Arendt heute sagen zum Stand der Feindschaften in Israel und Palästina?
Grunenberg: Es gibt einige Gedanken von ihr, die in ihrem historischem Kontext sehr aufschlussreich sind. Ihre Grundidee war: Das Hineinpflanzen eines jüdischen Staates nach dem Muster der europäischen Nationalstaaten des 18. und 19. Jahrhunderts in eine feindliche arabische Staatenwelt bringt Krieg, Leid und Vertreibung. Sie und einige andere zionismuskritische Intellektuelle dachten damals über eine Föderation Israels mit den arabischen Nachbarstaaten nach. Eine weitere Idee betraf die Errichtung eines europäischen Commonwealth mit Israel als Mitglied, das eine eigene Repräsentanz in einem europäischen Parlament hätte. Israel wäre dann eine Gründung Europas im Nahen Osten gewesen und stünde unter seinem und Amerikas Schutz.
War das nicht ein Traum?
Grunenberg: Erst mal eine verblüffende Zukunftsprojektion, damals, als Europa in Trümmern lag. Ich denke, Arendt würde heute kritisch gegenüber den Palästinensern einbringen, dass es keinen gemeinsamen Boden des Sich-Streitens gibt. Wenn man nicht eine Ebene erreicht, auf der man sich als politische Gegner trifft, sondern in der Position des Feindes verharrt, in der Sprache der wechselweisen Vernichtung und Demütigung, dann scheint es keine Alternative zum „Köpfeeinschlagen“ zu geben – auch wenn alle dieser Gewaltspiralen im Grunde müde sind.
Das Problem beim Köpfeeinschlagen ist, dass man hinterher nicht nur müde ist, sondern tot.
Grunenberg: Es gibt identifizierbare Stufen, wie aus Blutsfeinden politische Gegner werden können. Um nichts anderes geht’s. Dass man überhaupt miteinander redet, auch wenn man immer wieder feststellen muss, dass man nicht reden kann.
Hätte Hannah Arendt mit der Hamas geredet?
Grunenberg: Klar. Das denke ich schon. Nur hätte sie zunächst gefragt: Um Himmels willen, mit wem soll ich denn reden? Jemand, der Israel das Existenzrecht abspricht, mit dem geht das nicht.
Ihre These, Frau Grunenberg, von der Lust an der Schuld bei den Deutschen hat Ihnen Angriffe eingebracht.
Grunenberg: „Die Lust an der Schuld“ hat mir sogar einen Platz auf einer Liste von antisemitismusverdächtigen Büchern eingebracht. Meine These war, dass unsere Gedenkkultur nicht an der Frage der republikanischen Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger vorbeigehen kann, dass diese Verantwortung viel weiter reicht als die Gedenkkultur selber, dass gerade diese Gedenkkultur eine Art republikanischen Schutzgürtel braucht.
Frau Thürmer-Rohr, Sie haben sich mit der These von der Mittäterschaft von Frauen sehr unbeliebt gemacht.
Thürmer-Rohr: Ich habe dem damaligen Konsens widersprochen, dass das Patriarchat eine reine Männeraktion ist, ein System, das Frauen systematisch ausschließe. Ich wollte, dass der Eigenanteil der Frauen analysiert wird. Das war ein ziemlicher Affront gegen damalige Opfervorstellungen und eine Parteilichkeit, die Frauen schützen und schonen wollte. Das widersprach auch einer Identitätspolitik, für die Frausein als besondere Qualität galt, als spezifische Machart, als essentiell andere Spezies. Frauen sind aber Teil der Verhältnisse und damit auch Konstrukteurinnen der Realitäten.
Grunenberg: Ich glaube, diese These hat sehr viel verändert und bewirkt.
Thürmer-Rohr: Mein Hintergrund war die Erfahrung des Nationalsozialismus, als Kind. In meiner Generation hat man Erinnerungen an Mütter, Lehrerinnen, Nachbarn im Kopf. Sie alle als kollektive Opfer zu deklarieren, war vollkommen unhaltbar. Die Mittäterschaftsthese wollte die Kollaborationen und Komplizenschaften aufdecken und theoretisieren. Hilfreich waren dabei die Forschungen von Historikerinnen zu Frauen im NS-System. Das alles hatte Folgen für die Kritik an den vermeintlichen Eindeutigkeiten der Opfertäter- und der Geschlechterdifferenz.
Das Opfertäterdrama ist ja, jenseits des Feminismus, ein Hauptthema der Psychoanalyse. Hat Arendt diese Ansätze in ihr Denken integriert?
Die am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geborene, aber in Königsberg aufgewachsene Hannah Arendt studierte, gut bildungsbürgerliche Tochter aus jüdischer Familie, Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Martin Heidegger und Karl Jaspers. Jaspers wird ihr Doktorvater, Heidegger (für kurze Zeit) ihr Geliebter. Beiden blieb sie in Freundschaft lange verbunden.
1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 ging sie nach New York. 1963 wurde sie dort als Professorin für politische Theorie nach Chicago berufen, 1967 an die New School for Social Research in New York.
Hannah Arendt hat ein vielbändiges Werk hinterlassen, aber nie einen autobiografischen Text geschrieben. Berühmt wird ihr Fernsehinterview mit Günter Gaus, aufgezeichnet im Oktober 1964, aus dem der oft zitierte Satz stammt: „Ich will verstehen.“
Das vollständige Zitat lautet: „Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinn, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.“
Hannah Arendt lesen? Empfehlenswert zum Einstieg ist: „Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk“. Herausgegeben von Ursula Ludz, Piper, München 1996, 341 Seiten, 10 Euro.
Lektüren der Gesprächsteilnehmenden: Antonia Grunenberg: „Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe“. Piper, München 2006, 468 Seiten, 22,90 Euro; Christina Thürmer-Rohr: „Verstehen und Schreiben – unheimliche Heimat“, in der Zeitschrift Text+Kritik mit ihrer Ausgabe zu Hannah Arendt, Richard Boorberg Verlag, München 2005, 198 Seiten, 22 Euro.
Das Hannah-Arendt-Zentrum ist nach wie vor auf der Suche nach einer Finanzierung für eine kritische Ausgabe sämtlicher Werke und des Nachlasses Hannah Arendts.
Martin Heidegger (1889–1976): Einer der umstrittensten Denker in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Bekanntestes Werk: „Sein und Zeit“ (1927). Am 31. April 1933 wird Heidegger Rektor der Freiburger Universität, am 3. Mai 1933 tritt er in die NSDAP ein.
Karl Jaspers (1883–1969): Professor für Philosophie in Heidelberg und Mitbegründer der Existenzphilosophie. Sein dreibändiges Hauptwerk heißt „Philosophie“ (1932). Populär geworden ist er Ende der Fünfzigerjahre mit einer Sammlung von politischen Reden und Aufsätzen: „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“.
Sigmund Freud (1856–1939): Ursprünglich Arzt, widmet sich später dem Studium der seelischen Erkrankungen, insbesondere der Hysterie. Ab 1902 Titularprofessor in Wien. Freud wird nie auf einen Lehrstuhl an eine Universität berufen. Begründer der Psychoanalyse als anthropologisches Erkenntnismodell und als Therapie von seelischen Erschütterungen. Freud emigriert 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland nach London. Wichtigste Publikationen: „Die Traumdeutung“ (1900), „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905), „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Gabriele Sohl
Thürmer-Rohr: Scheinbar gibt es da keine Brücken. Arendt hat gegen die Psychoanalyse eine vitale Abneigung gepflegt. Es gibt Zugänge zu Arendts Denken, die sie selbst auf den ersten Blick versperrt hat. Trotzdem inspiriert ihr Denken auch die Abgewiesenen.
War die Psychoanalyse für Arendt eine „Feindin“?
Thürmer-Rohr: Arendt ging, wie die Griechen, davon aus, dass das Innere bei allen Menschen gleich ist und keine Pluralität, keine Differenz enthalte. Das Psychische sei wie das Physiologische – automatische, unwillkürliche Reaktion. Psychisch reagieren Menschen wie Pawlow’sche Hunde – alle gleich. Zum Beispiel auf Bedrohung mit Angst. Erst wenn man sich äußert, spricht, handelt, fängt man an, sich zu unterscheiden – die einen zeigen sich ängstlich, andere mutig, kühn, beherzt. Wir können uns entscheiden. Arendt sagt, ein Fehler der Psychoanalyse sei ihr Glaube, dass die Innen- und die Außenwelt den gleichen Standards folgt.
Teilen Sie diese These?
Thürmer-Rohr: Interessant ist weniger, inwieweit die These stimmt, als ihr Zusammenhang. Wenn das Innere bei allen gleich und ohne Pluralität wäre und diese Unterschiedslosigkeit zum Maßstab des gemeinsamen politischen Lebens würde, dann ergäbe das ein totalitäres Modell. Arendt sah Zusammenhänge zwischen dem Inneren, dem Einen, dem Entgrenzten, dem Maßlosen, dem Allmachtswahn und dem Bösen. In dieser Kette liegt ein Schlüssel, nicht nur um Arendts Abneigung gegen die Psychoanalyse zu begreifen, sondern ihr politisches Denken überhaupt. Der gemeinsame Nenner dieser Kette ist der Horror vor der Herrschaft des Singulars als Symbol der Allmacht und des Totalitären und damit der Abwesenheit von Pluralität. Diese Abwesenheit ist letztlich gleichbedeutend mit der Möglichkeit des Bösen. Es geht um die Gefahr eines alle Unterschiede einreißenden Modells, das die Bedingungen des Politischen zerstören würde.
Heißt das, im Inneren, psychisch, sind wir alle totalitäre Wesen?
Thürmer-Rohr: Es zeigt, was es eigentlich bedeutet, Menschen im Singular zu denken. Wenn Menschen wie gleiche Exemplare, wie ein Mensch agieren, dann werden sie gefährlich, durch nichts mehr aufzuhalten, durch kein Gegenüber, kein Anderes begrenzt. Wenn Arendt das Innere auf seinen Platz verweist, geht es ihr um diese fundamentale Gefahr, die nur auf politischem Wege, also durch die Wahrung der Pluralität zu bannen ist. Arendt war viel stärker um Grenzen und Selbstbindungen besorgt, als angenommen wird.
Grunenberg: Es gibt allerdings auch einen ganz klaren, denkgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die Distanz zur damals üblichen Psychoanalyse bei Arendt entstanden ist: die Psychoanalyse Freuds ist eine Konkurrenzbewegung zu der philosophischen Revolution, die Heidegger und Jaspers betrieben haben. Die Psychoanalyse hat etliche von Jaspers Ideen übernommen. Paradigmatisch vorgestellt, gab es also die eine Seite, die auch das Unausgesprochene, nur Erfühlbare in ein System eingliedert. Und auf der anderen Seite die Thesen der jungen Existenzphilosophen der Zwanzigerjahre, die nicht das Verhältnis des Subjekts zum Unbewussten, sondern das Verhältnis des Daseins zum Sein thematisieren. Das sind Konkurrenzmodelle.
Hat Arendt nicht auch sehr viel Respekt vor dem Unausgesprochenen gehabt? Als Unausgesprochen-bleiben-Wollendes?
Grunenberg: Dieses Eindringen der Psychoanalyse in den intimsten Bereich reißt natürlich eine Grenze nieder – die man aber braucht für politisches Denken. Und da würde ich Arendts Abhandlungen über die Polis ins Spiel bringen. Sie markiert an dieser einmaligen historischen Konstellation der antiken Stadtrepubliken die Grenze zwischen privat und öffentlich. Ihre Frage heißt: Brauche ich nicht einen Rückzugsort, von dem aus ich mich in die Öffentlichkeit begeben kann und in den ich mich wieder zurückziehe? Diesen Rückzug ins Private brauche ich, braucht jeder zum Schutz. Das wäre eine interessante – politische! – Frage an die psychoanalytische Theorie.
Thürmer-Rohr: Es gibt noch viele offene Fragen. Arendts Politikverständnis setzt ein anderes Bewusstsein von Freiheit und einen anderen Begriff von Politik voraus, als wir gewohnt sind. Pluralität war hierzulande lange eine Art Schimpfwort. Für Arendt gibt es ohne sie keine Freiheit. Pluralität ist für sie kein moralisches Postulat, sondern eine Antwort auf eine Bedürftigkeit der Menschen.
Grunenberg: Es gibt hierzulande nur ein verstümmeltes Verständnis von Pluralität im Sinne des Nebeneinanderexistierens. Für Arendts besteht die Sinnhaftigkeit von Pluralität jedoch in der Möglichkeit, sich zueinander in Beziehung zu setzen, öffentlich zu urteilen und zu handeln. Pluralität hat daher wenig mit Toleranz zu tun, aber umso mehr mit Streit und Anerkennung.
GABRIELE SOHL, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Sozialarbeit. Sie arbeitet als Assistentin der taz-Chefredaktion und Autorin