berliner szenen Körperbeherrschung

Fit vorm Fernseher

Im Fernsehen zeigen sie jemanden, der 35 Stunden auf einem ziemlich hohen, schmalen Turm ohne Geländer stehen möchte. Viel Platz hat er da oben nicht, er kann höchstens einen Fuß direkt vor den anderen setzen, aber das war’s dann auch. Am Ende will er versuchen, seine fabelhafte Leistung mit einem schönen Sprung in einen Pappkarton zu krönen.

Als ich einschalte, bin ich Zeuge, wie er gerade die schwierige 30-Stunden-Marke erreicht. Der Mann ist 29 Jahre alt und steht da wie eine Eins. Unten machen Leute Picknick und grölen „Du springst ja doch nicht“ oder „Da sitzt eine Spinne auf deiner Schulter“ und jede Menge Scherze von ähnlichem Kaliber. Nach vier Stunden Glotzen tut mir der Hosenboden weh, und ich bin mächtig beeindruckt, was andere Männer in meinem Alter zu leisten imstande sind. Und dann überkommt es mich. Ich kann nichts dagegen tun. Kraftvoll schwinge ich mich aus dem Sofa und postiere mich, um einen guten Stand zu haben. Mehrmals hintereinander atme ich energisch ein, dann fange ich an. Hüftkreisen, Schulternlockern, Kniebeugen – Pause. Hantelstemmen, Expanderquetschen, Seilschwingen – Pause. Als ich ein paar Liegestütze mache, kommt meine Frau nach Hause.

„Was machst ’n du da?“, höre ich sie sagen. Es klingt wie „Um Gottes Willen – verletz dich bloß nicht!“ Der Mann steht noch immer auf seinem Turm. „Trainieren“, brumme ich. „Wofür?“ „Na dafür“, sage ich, und nicke in Richtung Mattscheibe. Minutenlang bleibt sie vorm Fernseher stehn und sagt keinen Ton. Dann schüttelt sie den Kopf: „Was ’ne Zeitverschwendung – genauso sinnlos wie deine stundenlange Glotzerei. Aber immerhin: Wenn du so weiter trainierst, schaffst du es bald mit dem Rad zum Arbeitsamt!“ JOCHEN WEEBER