: Schäubles Freiheit
Wolfgang Schäuble sitzt seit seit 35 Jahren im Bundestag. 1981 machte ihn Helmut Kohl zum Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion. 1984 übernahm der Jurist als Kanzleramtsminister das Management in Kohls Regierungszentrale. Fünf Jahre später wurde er zum ersten Mal Bundesinnenminister und handelte mit der DDR-Regierung den Vertrag zur deutschen Einheit aus. Wenige Tage nach der Vereinigung verübte ein geistig verwirrter Mann ein Attentat auf ihn, seitdem ist er querschnittgelähmt. 1991 wurde er Chef der Unionsfraktion. Obwohl Schäuble lange vor 1998 auf Kohls Ablösung drängte, ging der Alte nicht. Nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün wurde Schäuble Parteivorsitzender. Unter seiner Verantwortung setzte die CDU 1999 in Hessen auf eine ausländerfeindliche Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – und gewann die Landtagswahl. Nur Monate später erschütterte ein Skandal um illegale Parteispenden die CDU. Schäuble musste zurücktreten, es kam zum endgültigen Bruch mit Kohl. Nach der Wahl 2002 wurde Schäuble Fraktionsvize für Außenpolitik. Seine Ambitionen, CDU-Kandidat fürs Amt des Bundespräsidenten zu werden, enttäuschte Angela Merkel. 2005 machte sie ihn stattdessen zum Bundesinnenminister. Er rief eine Islamkonferenz ins Leben, die die Beziehungen von Staat und Muslimen regeln soll. Sein größtes Projekt ist die Terrorbekämpfung durch mehr Kompetenzen für Polizei, Geheimdienste und Bundeswehr – Verfassungsänderungen inklusive. Nächstes Ziel ist eine Gesetzesänderung, die dem Bundeskriminalamt mehr Befugnisse sichert. LÖW
Kohl hat seine Rollen vorgegeben, Merkel hat ihn benutzt, und in der CDU-Spendenaffäre war er zum Reagieren verdammt. Daraus hat der Bundesinnenminister vor allem einen Schluss gezogen: dass nur noch Schäuble über Schäuble bestimmen darf. Und er hat noch viel vor
VON GEORG LÖWISCH
Wolfgang Schäuble wartet in einem Saal des Berliner Kongresshotels Estrel auf seinen Auftritt. Gerade hat der Kanzleramtschef seine Hand geschüttelt, und jetzt redet der ehemalige Innenminister Afghanistans auf ihn ein. Die Regie hat den Raum in warmes Licht getaucht für die Tagung des Bundesnachrichtendienstes. Zwischen den Stuhlreihen klönen die Geheimdienstler und Sicherheitsexperten, angereist aus aller Welt. Über ihnen, auf einer Videoleinwand, dreschen Polizisten einer Millionenstadt auf eine Menschenmenge ein, schwarzer Rauch verhüllt eine afghanische Landschaft, darunter fließt Musik wie zum Einstieg in einen Thriller.
Als er im Scheinwerferlicht seinen Vortrag beginnt, nennt sich Schäuble ein altes Fossil. Es klingt wie ein Witz: Schon komisch, dass ich immer noch da bin, Leute, oder? Wirklich komisch. Er ist 65 Jahre alt. Und er macht so ruhelos Politik, dass er fast wöchentlich Gegner aufbringt und Parteifreunde verstört. Schäuble hat noch was vor.
Satz für Satz liest er vor, es hört sich alles einfach an, fast gespenstisch normal. Die Welt verändert sich. Das zwinge den Westen in die Verantwortung. Die Welt wird gefährlicher. Das mache schlagkräftige Geheimdienste nötig. Den Terroristen sei die Trennung von Polizei und Geheimdiensten egal, nicht wahr? Also helfe sie dem Staat nicht weiter. Er schaut hinter der Lesebrille hervor. Manche hielten die Trennung für ein Verfassungsgebot. Sagt er. So ein Gebot habe er im Grundgesetz jedoch nicht gefunden.
Nicht einmal eine Minute hat er gebraucht, um ein Tabu beiseitezufegen, das sich auf die Erfahrung mit dem Horror der Geheimpolizei im Nationalsozialismus gründet.
Wolfgang Schäuble kommt aus Hornberg, einer Kleinstadt im Schwarzwald. Der Vater lässt den Sohn selbst erproben, wie weit er gehen kann. Dem Wolfgang vertraut er sofort nach der Fahrprüfung das Familienauto an. Karl Schäuble war der Aufsteiger seiner Familie. Er schaffte sich zum kaufmännischen Leiter einer Weberei hoch, blieb den Nazis fern und zog nach dem Krieg als CDU-Abgeordneter in den badischen Landtag ein. Einer, der sein Glück ganz allein gemacht hat.
Jetzt erzählt der Sohn in seinem Büro im dreizehnten Stock des Innenministeriums von damals. Hinter der Panzerglasscheibe sieht man die Spree glitzern. Schäuble wirkt entspannt. Er mag seine Jugend und den Freiraum, den der Vater ihm ließ. „Je älter ich werde, umso mehr, wenn ich in den Spiegel guck, denke ich: Jetzt komme ich immer mehr auf den Papa.“
Der Junge testet auf Versammlungen aus, wie weit er als Sohn des CDU-Chefs im sozialdemokratisch beherrschten Hornberg gehen kann. Freche Klappe. Irgendwann schmeißen die Sozis ihn einfach raus.
Im Freiburg Ende der Sechzigerjahre ist er die Nachwuchshoffnung der bedrängten CDU. Er argumentiert, er lässt sich von Linken nichts bieten, nimmt sich aber zugleich die Trägheit des eigenen Lagers vor. Er analysiert, entscheidet und drängt nach vorn. Wer nicht hinterherkommt, macht sich für Schäuble schnell zum Depp. Die Junge Union Südbaden wählt ihn zum Anführer. Zu seinem letzten Bezirksparteitag nach Singen lädt er den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz ein. Helmut Kohl.
Es wird der Mann sein, dem er sich für Jahrzehnte verschreibt. Er setzt seine Talente für ihn ein, putzt für den Mächtigen aus. Seine vier Kinder sieht er nur am Wochenende groß werden, seine Frau Ingeborg sitzt zu Hause. Unter Kohl gedeiht der Wunsch, Kanzler zu werden.
Herbert Leuninger war lange Sprecher von Pro Asyl, er musste viele Innenminister studieren. Im Frühling 1989 setzt Kohl Schäuble auf den Posten, als Nachfolger des CSU-Einheizers Friedrich Zimmermann. „Pro Asyl über Ressortwechsel Zimmermanns erleichtert“, tippte Leuninger über seine Pressemitteilung. „Vielleicht dürfen die Flüchtlinge jetzt aufatmen.“ Nur neun Tage später saß er wieder an der Schreibmaschine: „Schäubles erster Streich: Anschlag auf die Verfassung.“
Leuninger wohnt im hessischen Limburg. In seiner Hand hält der 75 Jahre alte Pfarrer einen Teebecher, auf dem „Herbert, der Besonnene“ steht. Ein Geschenk seines Bruders. Manchmal, wenn der Ratschlag wirkt, lösen sich Leuningers scharfe Züge. Er hat Pro Asyl aufgebaut, Flüchtlinge aus Eritrea als Freunde gewonnen und vor Asylbewerberheimen Wache gehalten. „Wir haben Schäuble für einen gemäßigten, sozial eingestellten Mann gehalten“, sagt Leuninger und versucht ein Lächeln. „Aber er war hart. Unnachgiebig.“
Schäuble suchte das Asylrechts per Gesetz zu stutzen. Als das nicht reichte, trieb er Union, FDP und SPD zur Änderung der Verfassung. Auf dem Weg dorthin wurde eine Debatte angestachelt, die Begriffe wie „Überfremdung“ gebar. Bei Leuningers Freunden durchschlugen Steine die Fensterscheiben. Der Katholik wirft Schäuble vor, Wahnvorstellungen geschürt zu haben. Heute vermische sich in der Terrordiskussion das Sicherheitsbedürfnis der Menschen mit der Angst, teilen zu müssen.
Ehe der Bundestag die Einschränkung des Asylrechts beschloss, begegneten sich die zwei in einem Fernsehstudio. Der Pfarrer wütete, obwohl er wusste, dass er verloren hatte. Als die Kameraleute zusammenpackten, nahm Leuninger bei seinem Gegenüber eine Spur von Unsicherheit wahr. Vielleicht wollte der andere ihn nur besänftigen? Schäuble sah ihn an und fragte: „Was sollen wir denn machen?“
Mitten in seiner Amtszeit als Innenminister schießt ein geistig verwirrter Mann auf ihn. Schäuble ist vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt.
In Gengenbach im Schwarzwald haben die Schäubles ihrer Familie ein Haus gebaut. Hinter einem Rebhang beginnt der Wald. Der untere Buchrainweg windet sich in eleganten Serpentinen, Jogger können sich die Steigungen hocharbeiten und es bergab laufen lassen. Einst war es Schäubles Laufstrecke. Nach einer Kurve an einem Bach liegen heute zwei Steinblöcke am Rand des Wegs. „Schäuble Brunnen“, steht darauf, eine Seniorenwerkstatt hat ihn nach dem Attentat angefertigt.
Es muss einen Augenblick nach dem Anschlag gegeben haben, in dem er beschloss, sich nicht aufzugeben. Er hat in der Reha trainiert, bis er sich in eine neue Balance gebracht hatte, hat sich Akten ans Bett bestellt und sich so schnell wie möglich zurück nach Bonn gequält. Er hat seinen Körper neu gebaut und zugleich unterworfen.
Schäuble spricht offen über die Behinderung. Er sagt, dass er ungern auf Feste geht, weil seine Kommunikationsfähigkeit dort eingeschränkt ist. Auf Stehempfängen sitzt ein Rollstuhlfahrer unten. Schwappt im Gedränge ein Bier über, wird Schäubles Anzug nass.
Er muss bald nach dem Anschlag zum Ergebnis gekommen sein, dass maximale Offenheit maximale Sympathie weckt. Schon in der Klinik lässt sich der Schwerverletzte fotografieren. Später schildert er in einem Magazin, wie der Hund ihn nicht erkannte, als er an Weihnachten das erste Mal nach dem Anschlag nach Hause kam. Wie er im Rollstuhl friert, wie es ist, wenn er umkippt. Von keinem Politiker haben die Menschen so existenzielle Erlebnisse erfahren. Er hat sich an die Menschen heranerzählt, selbst das liberale Publikum bekommt ihn schwer auf Distanz.
Wenn jemand behauptet hat, die körperliche Schwäche bringe ihn gegen den vermeintlich schwachen Staat auf, verschließt er sich. Eigentlich tut er gern mal gekränkt. Aber dieser Diskussion will er keine Nahrung geben. Nicht weil sie ihn diskriminiert, sie ist gefährlich für ihn. Er darf nicht als irrational gelten. Vielen in der Union gefällt ein Minister, der Otto Schily an Härte übertrifft. Aber der Ruf des verhärteten Charakters brächte ihm nichts.
Er steuert gegen. Mittlerweile nennt er nicht mehr so ungebrochen den Sisyphus als sein Ideal, den Sagenheld, der Erfüllung darin finde, immer wieder denselben Stein bergan zu wälzen, obwohl er es nie schafft, weil der Brocken immer wieder zurückrollt. Die Geschichte löst allzu traurige und verbissene Bilder aus.
„Das heißt ja nicht, wie ein Besessener den Stein zu wälzen“, sagt Schäuble heute und zieht den badischen Dialekt hoch. „Da machen wir ’nen badischen Sisyphus. Tun wir erscht mal veschpern, wenn er eh schon unten liegt, und oben, bevor wir ihn laufen lassen, gönnen wir uns auch mal ’ne kleine Paus.“
Schäuble kann sich von vielen Seiten zeigen. Er stützt das Kinn in die Hände und lässt seine Augen nachdenklich wandern. Er treibt Menschen mit unduldsamer Schärfe in die Enge. Er frotzelt über das eigene Geschäft und macht seine Sätze mit einem „weiß der Kuckuck was“ niedlich. Er verstellt sich nicht. Er sortiert seine Gesichter.
Nachdem Helmut Kohl ihm jahrelang Rollen zugewiesen hat, will Schäuble sein Bild selbst bestimmen. Nach und nach hat er sich frei gemacht von dem Mann, für den er Musterschüler, Kronprinz, missratener Ziehsohn war. Gewann dabei an Höhe, wenn auch nicht an Amt.
Redet er heute über Kohl, klingt es, als dosierte er seine Verachtung. Mehr wäre zu viel der Ehre. „Unsere Beziehung ist beendet“, sagt er. Nichts mehr sonst.
Zeuge von Schäubles Entwicklung war Hans-Peter Repnik, der ihn seit der Universitätszeit in Freiburg kennt. Später trafen sich die beiden als CDU-Abgeordnete in Bonn wieder. In der Früh gingen sie durch den Nebel joggen, fünf Kilometer im Stadion hinterm Abgeordnetenhochhaus. Später war Schäuble Fraktionschef und Repnik die Nummer zwei.
Repnik hat ein Haus am Bodensee. Er ist Vater von zwei Töchtern und ein junger Großvater, aus der Politik ist er raus. Wenn er über jene Zeit nach Kohls Abwahl erzählt und über den Umzug von der Bonner in die Berliner Republik, spürt man immer noch die Aufbruchstimmung in der Union mit Schäuble als neuem Parteichef. Und das Chaos, als die Nachrichten vom illegalen Geldsystem des alten Kanzlers einschlugen. Repnik kann den Moment im Februar 2000 abrufen, als die Unionsspitze nachts in Berlin zusammensaß und Schäubles Rücktritt analysierte.
Das Problem sei gewesen, dass für eine effektive Verteidigung des neuen Parteichefs Informationen gefehlt hätten. Kohl und seine Leute behielten die Dinge einfach bei sich, Schäuble aber trug die Verantwortung für die Partei. Er wusste von der Hunderttausend-Mark-Spende, die er selbst von einem Waffenhändler bekommen hatte. Er schwieg jedoch. Log das Parlament an.
Repnik sagt, die Medien in Berlin hätten sich anders verhalten als im alten Bonn. Mehr Fernsehteams, weniger Vertraulichkeit, einen Tick schneller. „Vielleicht liegt es auch daran, dass ein erheblicher Teil der erfahrenen Journalisten in Bonn geblieben ist und in Berlin plötzlich eine Heerschar junger, ehrgeiziger Leute losgelassen wurde.“
Kohl walzte die Meute platt. Schäuble blieb mit dem Rollstuhl im Fotografenpulk stecken.
Heute kommt er zu Veranstaltungen in letzter Minute, rollt so schnell zum Podium, dass Mitarbeiter kaum Schritt halten können. Nach den Auftritten taucht er ab, als folgte er einem Evakuierungsplan. Einmal, nach einer Buchvorstellung in Berlin, verschwindet er wie üblich. Die Journalisten bummeln aus dem Saal. Da sitzt plötzlich Schäuble auf einer offenen Hebebühne neben der Haupttreppe. Die Plattform bewegt sich lautlos abwärts, unendlich langsam. Die Journalisten starren den Mann im Rollstuhl an, als wäre er nackt. Der Minister fixiert einen imaginären Punkt an der Wand.
Die Szene ist ungewöhnlich. Er bestimmt doch seine Geschwindigkeit, er macht die Nachrichten, er hat die Informationen. Schäuble will nicht reagieren müssen.
Sich nicht binden zu lassen, sich in der Politik nie wieder zu binden, immer gelingt das nicht. Angela Merkel hat ihn benutzt, die Frau, die er einst zur CDU-Generalsekretärin beförderte. Die nach seinem Sturz aufstieg. Als es 2003 um das Amt des Bundespräsidenten ging, machte sie Schäuble Hoffnungen und gab ihm dann einen Tritt. Der Überraschungskandidat Horst Köhler passte besser in ihr Kalkül.
Über Merkel sagt Schäuble nichts Böses. Was würde das auch nützen? Sie lässt ihn in Ruhe, starke Minister kann sie brauchen. Er ist zu alt, um Kanzler zu werden. Keine Konkurrenz. Umgekehrt hat sich Schäuble entfernt von seinen alten Träumen. Ein Stück wenigstens, er hat sich immerhin jahrzehntelang nach diesem Ziel gesehnt.
Vielleicht ist sein Rang auch nicht das Wichtigste. Solange er über sich selbst bestimmt. Das ist die Freiheit, nach der er strebt.
„Die menschlichen Enttäuschungen in der Politik habe ich mir abgewöhnt“, sagt Schäuble. „Da kann mich nichts mehr überraschen.“
Fragt man Repnik, ob sein Freund gelernt hat, nur noch sich selbst zu vertrauen, antwortet er: „Ich will das nicht vertiefen.“ Dann schweigt er und wartet auf die nächste Frage.
Mit seiner Biografie verkörpert Repnik den Gegenentwurf zu Schäubles Festhalten an der Politik. Der fünf Jahre Jüngere hat seine Laufbahn ausklingen lassen. Als Schluss war, ist er mit seiner Frau nach Slowenien gefahren. Auf dem Hof der Familie haben sie sich zwei Wochen einschneien lassen. Er sieht entspannt aus. Er erkundigt sich regelmäßig, wie es in Berlin läuft. Der Freund sei eben pflichtversessen, dafür bewundere er ihn.
Schäuble macht weiter. Sein Vater hat bis zuletzt als Steuerberater Mandanten betreut. Er starb mit 93. Dass der Sohn seine alten Tage im Garten verlebt, kann man sich nicht gut vorstellen. Er kann es nicht genießen, auf der Terrasse zu sitzen, wenn er davor nichts geschafft hat. Wenn hinterher nichts kommt.
Er rackert. Er treibt die Terrordebatte mit bizarren Ideen voran. Er will das Grundgesetz anders gelesen sehen. Er will es sogar umschreiben. Ausgerichtet auf eine dauerhafte Belagerungssituation: Der Staat begibt sich in einen Wettlauf mit den Terroristen. Starke Rechte für den Sicherheitsapparat, schwache Rechte für die Bürger. Die Bundeswehr darf im Inland marschieren, und für den Abschuss eines entführten Flugzeugs gibt es festgelegte Mechanismen.
Er will nach einem Terroranschlag nicht wieder in der Rolle des Reagierenden gefangen sein. Er ist aber auch überzeugt, als Einziger die richtige Schlussfolgerung zu ziehen.
Er verblüfft so selbst politisch Nahestehende. Der konservative Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat kürzlich gesagt, es sei eine Krankheit, dass ständig das System in Frage gestellt werde. Die Gesellschaft dürfe sich nicht in eine Notzeit hineinreden, in der jedes Mittel recht sei. „Die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand ist kein guter Ratgeber“, erklärte Di Fabio. Wer, wenn nicht Schäuble, sollte mit diesem Befund gemeint sein?
Bei CDU und CSU ist er unangefochten, obwohl er einige verletzt und geschurigelt hat. Inzwischen hat er es nicht mehr nötig, jemanden zu befehden, er fördert auch niemanden besonders. Seine Vertrauten sind seine Frau und seine älteste Tochter, die 1990 den Anschlag miterlebte. Sollen sich andere ein Team aus Verbündeten halten, einen Stammtisch, ein Spionagenetz in den Landesverbänden. Merkel tippt abends SMS, Schäuble trinkt einen Schoppen und denkt sich allein was aus.
Eine Institution, sagen sie in der Unionsfraktion. Er strahle Kälte aus, heißt es, wirke entrückt. Sie haben Angst vor seiner schneidenden Analyse, der Intensität seines Blicks, vor Missachtung. Wenn er vorträgt, verstummen alle Gespräche im Fraktionssaal.
Er zwingt seinen Körper. Ringt sich am Sonntagmorgen bei der Jungen Union ein kämpferisches Brüllen ab. Drückt montags vor Sportfunktionären einen Hustenreiz in die Brust zurück. Wenn der Rollstuhl ungünstig steht, bewegt er ihn mit einem feinen Schwung, als wäre das Gerät ein Körperteil.
Er geht aus, viel mehr als andere Politiker. Aber als er seine Möglichkeiten aufzählt, oben im Ministerbüro, wird der Ton höhnisch, als lästerte er über einen, der jeden Abend vorm Fernseher einpennt. „Ich geh ins Kino, ins Theater, ins Restaurant“, sagt er. „Früher hab ich meine Freizeit mit Sport verbracht.“
Theatervorstellungen kann er ansehen, aber in der Politik lässt er selber die Puppen tanzen. Das Essen und den Wein kann er schmecken, die Ergebnisse seiner Politik kostet er aus. Er will kein Menü vorgesetzt kriegen.
An Wochenenden kurbelt er ein Handbike durch den Grunewald oder die Wege am Schwarzwald entlang. Eine Stunde, zwei Stunden. Er sagt: „Ab drei, vier Stunden wird’s gut.“
Er wird weitermachen, solange er kann.
GEORG LÖWISCH, Jahrgang 1974, ist Reporter und Redakteur in der taz-Inlandsredaktion