: Ignoranz 21
Vieles deutet darauf hin, dass die Kosten für Stuttgart 21 geschönt wurden. Selbst glasklare Formulierungen in lange geheim gehaltenen Papieren der Deutschen Bahn werden ignoriert. War das womöglich Betrug? Natürlich nicht, sagte die Staatsanwaltschaft Ende Oktober, noch rechtzeitig vor der Volksabstimmung jetzt am Sonntag. Eine kritische Bestandsaufnahme
von Meinrad Heck
Das Papier aus dem Innenministerium Baden-Württemberg ist nicht neu, aber es hat's in sich. Diese sechs Seiten eines vertraulichen Vermerks vom 6. November 2009 sind seit Monaten öffentlich und rauschen durch den deutschen Blätterwald. Sie werden diskutiert und in ihre Einzelteile zerlegt. Noch zu Zeiten von Ministerpräsident Stefan Mappus haben die Ministerialen mit diesem Schreiben ihre eigene schwarz-gelbe Regierung vor den Praktiken der Deutschen Bahn gewarnt, wenn es darum ging, Kosten für das Milliardenprojekt so zu schönen, dass die Messlatte von 4,526 Milliarden Euro nicht gerissen wird.
Sie haben ihre eigene Regierung darauf hingewiesen, wie sie „unter höchstem Zeitdruck“ Milliardensummen ohne ausreichende Belege hätten prüfen müssen, wohl wissend, dass sie nicht alles wissen, weil ihnen die Verantwortlichen der Deutschen Bahn, wenn überhaupt, nur scheibchenweise geantwortet hatten.
Die Ministerialbürokratie zum Schweigen verdonnert
Es ging in den entscheidenden Monaten des Jahres 2009 beim Abschluss der legendären Finanzierungsvereinbarung mit jener ebenso legendären Deckelfinanzierung von maximal 4,526 Milliarden Euro um ein „Kommunikationsdesaster“, das seinerzeit nicht hatte öffentlich werden dürfen, oder um die Frage einer „arglistigen Täuschung“ seitens der Bahn.
Wohlgemerkt eine Frage, aber auch die hatte zur Wahrung des schönen Scheins in der Öffentlichkeit nichts verloren. Jetzt ist sie in der Öffentlichkeit, und sie wird vor der Volksabstimmung nicht einmal schöngeredet, sondern schlicht ignoriert, als gäbe es sie nicht.
Seinerzeit hatten sich die Ministerialen die Finger wund und den Frust von der Seele geschrieben, damit wenigstens ihre Mahnungen aktenkundig und sie aus dem Schneider waren. Der Ball lag bei der großen Politik, einst bei Günther Oettinger, später bei Stefan Mappus. Und diese Regierungschefs schwiegen. Sie wussten, was ihre Ministerialbürokratie herausgefunden hatte, und sie verdonnerten sie zum Schweigen.
Dabei waren die Formulierungen in den vertraulichen Vermerken glasklar gewesen. Die Rede vom angeblich bestgeplanten Projekt Deutschlands hatte die Bahn den Ministerialen zufolge „selbst ad absurdum geführt“. Wenige Monate nach der Finanzierungsvereinbarung mit dem Land vom April 2009 war das Projekt urplötzlich und wundersamerweise eine Milliarde Euro teurer geworden.
Ein paar entscheidende Kostenkalkulationen der Bahn etwa zum Tunnelbau hatten allerdings das Datum 2008 getragen, weshalb die Ministerialen messerscharf daraus schlossen, dass „der DB beim Abschluss des Finanzierungsvertrags bereits bekannt war, dass im Tunnelbau mit deutlich höheren Kosten zu rechnen ist“. War das eine arglistige Täuschung?
Wo die große Politik in der Folgezeit des schönen Scheins zuliebe Nachsicht übte, mahnte ihre eigene Bürokratie „in jedem Fall zur Vorsicht“. Denn der mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit zerredete sogenannte Risikofonds der Bahn, dieser Puffer, der dafür sorgen sollte, dass die Kosten unter Kontrolle bleiben, war internen Ministeriumspapieren zufolge schon 2009 „weitgehend ausgereizt“ und die Bahn hätte eigentlich „Kostenexplosionen“ erklären müssen.
Frühere Richter hegen Verdacht des Betrugs
Selbst die Ausstiegskosten, die aktuell vor dem Volksentscheid in schwindelnde Milliardenhöhen hochgeredet werden, waren 2009 schon einmal thematisiert worden. Seinerzeit machten die mahnenden Stimmen im Stuttgarter Innenministerium aktenkundig: „Auf den Umstand, dass die Kostensteigerungen bei der DB wohl bereits vor Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung bekannt waren, sollte hingewiesen werden. Im Falle eines Projektabbruches würde das Land keine Zahlungen leisten, sondern vielmehr Schadensersatz verlangen.“
Das alles rief, weil es seit Monaten öffentlich bekannt ist, Juristen auf den Plan. Natürlich wiederum nur solche, welche in der Ecke der üblichen Verdächtigen stehen. Jene Vereinigung „Juristen zu Stuttgart 21“ nämlich, in der sich namhafte Advokaten und frühere Richter außerordentlich kritisch mit Deutschlands bestgeplantem Projekt auseinandersetzen und es auseinandernehmen.
Sie hegten den Verdacht des „Betruges in einem besonders schweren Fall“, weil die Bahn vor Abschluss jener Finanzierungsvereinbarung eine Kostensteigerung von einer Milliarde Euro zwar gekannt, aber verschwiegen und ausdrücklich als „unwahrscheinlich“ bezeichnet hatte. Nichts anderes hatten die mahnenden Stimmen im Innenministerium aktenkundig gemacht.
Und wieder war Papier geduldig. In dicken Schriftsätzen zeigten die Juristen Verantwortliche der Bahn bei der Staatsanwaltschaft wegen des besagten Betrugsverdachts an, und in ebenso dicken Papierstapeln der Strafverfolger steht, warum an dem Verdacht angeblich nichts dran ist.
Staatsanwaltschaft sieht „keine Täuschung über Tatsachen“
Denn für die Staatsanwaltschaft Stuttgart waren und sind die vorzeitig bekannten Kostensteigerungen nun einmal „rechtlich nicht offenbarungspflichtig“. Rechtlich, wohlgemerkt. Der Gesetzgeber hat demnach über solch rechtliche Geschäftspraktiken zu urteilen, nicht über moralische Defizite. Wenn die Bahn „pauschal“ künftige Kostensteigerungen von einer Milliarde Euro als „unwahrscheinlich“ bezeichnet, obwohl sie sie kennt – und genau das hat sie getan –, ist das für eine Staatsanwaltschaft eben noch lange „keine Täuschung über Tatsachen“. Denn das Wörtchen „unwahrscheinlich“ enthält für die Stuttgarter Strafverfolger „keinen Tatsachenkern“, auf den die Bahnverantwortlichen festzunageln wären.
Das wiederum, sagen die üblichen Verdächtigen, also die kritischen Juristen der Gegenseite, sei „ein Freibrief für jeden Architekten oder Planungsingenieur, durch Vorspiegeln zu geringer Kosten oder durch Verschweigen ihm bekannter Kostensteigerungen einen Geldgeber zum Abschluss eines Finanzierungsvertrags zu verleiten“. Gesagt, geschrieben und de facto ignoriert. Kein unabhängiges Gericht kann ohne Anklage darüber befinden, weil eine Staatsanwaltschaft die Vorwürfe bewertet, ohne ihnen nachzugehen. Es gibt kein Ermittlungsverfahren.
Ein solch peinliches, vielleicht sogar verheerendes Betrugsverfahren gegen die Deutsche Bahn und ihr vermeintlich bestgeplantes Projekt in Deutschland ist damit gerade noch rechtzeitig vor der Volksabstimmung vom Tisch. Die Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft läuft seit dem 7. November 2011. Und sie läuft und läuft. Wen soll das noch interessieren?